Parolin: Papstreise soll Einheit in wichtigen Fragen fördern
Massimiliano Menichetti - Vatikanstadt
Konkret müsse Europa möglichst schnell einen Konsens über den neuen EU-Pakt zu Migration und Asyl finden, sagte der Kardinal kurz vor der Papstreise nach Marseille: „Alle europäischen Länder müssen gemeinsam Verantwortung für die Situation im Mittelmeer übernehmen, fernab von Slogans und Gegensätzen und mehr die Gesichter als die Zahlen eines komplexen und dramatischen Problems im Auge behalten.“ Auf seiner zweitägigen Reise (22.-23. September) schließt Franziskus in der Mittelmeermetropole Marseille das 3. Treffen der Mittelmeerländer („Les Rencontres Méditerranéennes“) ab.
Vatican News: Beim Mittelmeer-Treffen kommen katholische Bischöfe von 30 Ländern des Mittelmeerraums mit Bürgermeistern und Jugendlichen zusammen. Was wird der Papst mitbringen zu dem Treffen?
Kardinal Parolin: Der Heilige Vater hat die Einladung angenommen, nach Bari und Florenz an dieser dritten Ausgabe der „Mittelmeertreffen“ teilzunehmen, weil er darin eine wertvolle Gelegenheit zum Austausch und zum Aufbau des Gemeinwohls sieht. Die Mittelmeertreffen fördern in der Tat Einheit bei der Bewältigung gemeinsamer und entscheidender Herausforderungen - für eine Zukunft, die, ob es uns gefällt oder nicht, gemeinsam sein wird oder nicht, wie der Papst uns wiederholt in Erinnerung gerufen hat. Die Mittelmeertreffen finden in einem Kontext statt, der in fast einzigartiger Weise verschiedene Territorien, Völker, Geschichten und Religionen zusammenbringt. Ich glaube, dass der Heilige Vater in Marseille ein Zeugnis für diesen Geist des Zusammenhalts und der Konkretheit ablegen möchte. Im Mittelmeerraum ist die vorherrschende Debatte derzeit mit der Migrationsfrage verbunden, bei der über Schwierigkeiten hinaus gerade die Notwendigkeit deutlich wird, die Probleme gemeinsam und mit weitsichtigen Visionen anzugehen und nicht nur als aktuelle Notfälle, die jeder nach seinen eigenen Interessen anzugehen versucht.
Vatican News: Wie können wir Willkommenskultur, Dialog und Frieden in einer Welt schaffen, die sich schwertut, das Gesicht der Bedürftigen zu erkennen?
Kardinal Parolin: Wir sollten wirklich anfangen, ernsthaft und aktiv an den Dialog zu glauben, der kein nützliches Instrument zur Durchsetzung der eigenen Positionen ist, sondern ein offener Weg, um gemeinsame Lösungen zu finden. Es ist wahr, dass es der Welt schwerfällt, die Gesichter der Bedürftigen zu erkennen: So viele Probleme werden leider eher anhand von „Zahlen“ als anhand von „Gesichtern“ behandelt. Wenn wir über das Drama der Migranten nachdenken, müssen wir zuerst von der Priorität der Menschenwürde ausgehen - vor allen anderen Erwägungen, wie legitim diese auch sein mögen. Wir müssen jenes ideologische Denken vermeiden, vor dem der Papst warnt und das oft propagandistische Theorien über die Realität der Fakten stellt. Die Migrationsproblematik ist ein komplexes Phänomen, für das es keine einfachen und sofortigen Lösungen gibt und das nicht mit Slogans und Versprechungen angegangen werden sollte. Es braucht, wie auch der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge vor einigen Tagen in Erinnerung gerufen hat, „einheitliche Aktionen“, die wirklich Ressourcen binden, um bessere Aufnahmebedingungen, Frieden und Stabilität zu gewährleisten.
Vatican News: Kriege, Armut und Gewalt sind oft der Grund für die Flucht der Menschen. Welche konkreten Schritte sollten unternommen werden, um die internationale Gemeinschaft wachzurütteln?
Kardinal Parolin: Auch wenn es Kriege, Armut und Gewalt sind, die die Entscheidung, das eigene Land zu verlassen, bestimmen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Gründe von denen verursacht werden, die Gewalttaten begehen, die Konflikte auslösen, die politische Entscheidungen treffen, die nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Der erste Schritt besteht also darin, Verantwortung für die Entscheidungen zu übernehmen, die wir jeden Tag in unseren Häusern, in unseren Familien, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Schule, in unseren Gesellschaften und in unseren Regierungen treffen. Krisen sind kein Zufall, sondern eine Frage persönlicher und kollektiver Entscheidungen. Es bedarf einer Umkehr – als Ausgangspunkt für positive politische Vorschläge, Investitionen und soziale Projekte, die darauf abzielen, eine Kultur der Liebe und eine brüderliche Gesellschaft aufzubauen, in der die Menschen nicht gezwungen sind zu fliehen, sondern in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben können.
Gemeinsam Verantwortung übernehmen
Vatican News: In den letzten Tagen haben die Anlandungen von Migranten an der italienischen Küste, insbesondere auf Lampedusa, zugenommen. Was soll man den Bewohnern der Insel sagen, die sie immer willkommen geheißen haben, aber seit Jahren darum bitten, nicht allein gelassen zu werden?
Kardinal Parolin: Zunächst einmal ist keine gute Tat nutzlos, keine Geste der Liebe und der Nächstenliebe ist vergeblich! Christus ist in unseren Versuchen, die Geringsten unter uns zu lieben und für sie zu sorgen, gegenwärtig, und in jedem Akt der Großzügigkeit begegnen wir Ihm und erfahren Seine Gegenwart. Diejenigen, die sich um Migranten und Flüchtlinge kümmern, können jedoch nicht ohne die Unterstützung der Regierungen wirken und können mit dieser Situation nicht allein gelassen werden. Sie brauchen Solidarität auf nationaler und internationaler Ebene. Mehr als ein Aktionsplan wird derzeit auf politischer Ebene diskutiert. Nicht nur in Italien, sondern auch in Europa. Ich denke dabei sowohl an die verschiedenen Entwicklungsprojekte in Afrika als auch an den neuen EU-Pakt für Migration und Asyl. Zu diesem Pakt muss so schnell wie möglich ein Konsens gefunden werden. Alle europäischen Länder müssen gemeinsam die Verantwortung für die Situation im Mittelmeer übernehmen!
Vatican News: Wenn man über Migrationsströme spricht, hat man den Eindruck, dass wir uns immer im „Jahr Null“ befinden... Dabei gibt es doch etablierte Modelle der Integration und Aufnahme. Wie wichtig ist es, diese umzusetzen und positiv zu kommunizieren?
Kardinal Parolin: Es gibt ,Best Practices‘ und Aktionspläne, wir fangen nicht bei Null an. Es gibt Modelle, die sicherstellen können, dass die Migration sicher, geordnet und regulär abläuft. Daher sind wir alle aufgerufen, über die Rhetorik hinauszugehen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die eine Überlastung des Aufnahmesystems für Migranten vermeiden und die Arbeit der Menschen vor Ort unterstützen.
Vatican News: Was können wir von dem Treffen in Marseille erwartet, zu dem der Papst reist?
Kardinal Parolin: Der Titel der Begegnungen „Mosaik der Hoffnung“ fasst die Erwartungen gut zusammen: Es geht darum, die Hoffnung wiederzubeleben, und zwar in einer Zeit, in der man ein Klima großer Intoleranz und Gleichgültigkeit wahrnimmt. Es geht darum, sich gemeinsam auf grundlegende Themen zu einigen, bei denen es nicht auf verschiedene Seiten und Gegensätze ankommt, sondern auf Zusammenarbeit und guten Willen! Ich denke dabei an Migration, aber auch an die Herausforderungen des Friedens, des Klimawandels, des Kampfes gegen den Hunger... In diesem Sinne stellt das Treffen in Marseille als Ausdruck einer gemeinsamen Arbeit von kirchlichen und zivilen Verantwortlichen eine Gelegenheit dar, Hoffnung auf konkrete Weise zu fördern.
(vatican news)
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