Suche

 Hilfe für die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs (Archiv des Heiligen Stuhls) Hilfe für die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs (Archiv des Heiligen Stuhls)  

Ein lang verschwiegenes Kapitel: Wie der Vatikan Nazis zur Flucht verhalf

Hunderten Nazis soll nach dem Krieg mit kirchlicher Hilfe die Flucht außerhalb der Reichweite der Siegermächte gelungen sein. Die Existenz der sogenannten „Rattenlinie“ ist schon lang bekannt, erfährt jetzt aber auch im Vatikan mehr Aufmerksamkeit. Bei der jüngsten Konferenz zu den Archivalien des Pontifikats von Pius XII. haben wir mit zwei Historikern über die „Rattenlinie“ gesprochen.

Jonas Over – Vatikanstadt

„Man muss sich unbedingt die Situation nach Kriegsende vor Augen führen, sonst wird man das nicht verstehen. Es waren Millionen von Flüchtlingen, allein über 12 Millionen sogenannte Volksdeutsche waren auf der Flucht nach 1945. Dazu gesellten sich Millionen andere, wie Holocaustüberlebende, Kriegsgefangene usw. Mit dieser humanitären Katastrophe hat man umgehen müssen. Der Vatikan wollte eben auch helfen“, ordnete Gerald Steinacher den historischen Kontext ein. Er ist Professor für Geschichte an der University of Nebraska-Lincoln.

Prof. Dr. Gerald Steinacher
Prof. Dr. Gerald Steinacher

Hilfsorganisationen für Geflüchtete hat es viele gegeben nach dem zweiten Weltkrieg. Jene, die von den alliierten Siegermächten gegründet wurden, überprüften, wem sie halfen. Täter der nationalsozialistischen Diktatur sollten schließlich nicht einfach ausreisen können, sondern vor Gericht landen. Der Vatikan sah das nicht ganz so eng, erklärte Steinacher. „Der Vatikan hat hier mit verschiedenen Hilfseinrichtungen agiert, die alle auf dem Prinzip der neutralen Humanitätsgedanken basiert sind, also in der Tradition des guten Samariters tätig werden. Egal was die Leute für einen Hintergrund haben, man hilft ihnen. Man hilft jeden, der um Hilfe fragt. Und diese Art von Hilfe wurde natürlich von NS-Tätern dann auch sehr stark ausgenutzt.“

Viele kirchliche Vertreter wollten die Vergangenheit weitestgehend hinter sich lassen. Deutschland sollte wieder „rechristianisiert“ werden und die „verlorenen Schafe“ wollte man wieder unter dem Dach der Kirche zusammenführen. „Es ging um den Aufbau von Nachkriegsdeutschland, sicher auch in Verarbeitung der Vergangenheit, aber es sollte nicht ewig um diese Vergangenheit herum reflektiert hätte“, so fasste Pater Paul Oberholzer SJ die Zielsetzung seines ehemaligen Mitbruders Robert Leiber SJ zusammen. Leiber war wie Oberholzer Jesuit und Privatsekretär von Pius XII. Er half mit heimatvertriebenen Deutsche eine neue Heimat zu suchen. Sein archivalischer Nachlass befindet sich in der päpstlichen Universität Gregoriana und wurde von Pater Oberholzer untersucht.

Pater Oberholzer SJ
Pater Oberholzer SJ

Verspätete Aufarbeitung

Hunderte Kriegsverbrecher, aber auch Kollaborateure aus den von den Nazis besetzten Ländern, kamen mithilfe von päpstlichen Hilfsorganisationen über verschiedene Wege nach Südamerika oder ins damals faschistische Spanien und entzogen sich so den Kriegsverbrechertribunalen. Schon zur Zeit der Geschehnisse war dies ein offenes Geheimnis. Doch wurde es immer wieder geleugnet, führte Steinacher aus: „Das vatikanische Staatssekretariat hat damals gesagt: Wir haben mit dem nichts zu tun. Wir haben mit diesen päpstlichen Hilfsstellen, die hier offensichtlich involviert sind oder in den Medien immer wieder genannt werden, nichts zu tun. Das entsprach natürlich nicht der Wirklichkeit.“

Erst Jahrzehnte später kam die Aufarbeitung der Geschehnisse in die Gänge. 2020 wurden die Archive rund um das Pontifikat Pius XII. erstmalig für Historiker geöffnet. Dies war der Auftakt einer allgemeinen Aufarbeitung der Rolle des Vatikans im Zweiten Weltkrieg. Doch wird die Auswertung der nun zugänglichen Materialien noch dauern. „In den vatikanischen Archiven lernt man sehr viele neue Details über die Struktur, einzelne Individuen und größere Zusammenhänge. Aber das ist eine Arbeit, die Jahre noch in Anspruch nehmen wird. So schnell kann man hier nicht zu Ergebnissen kommen. So funktioniert die Archivforschung einfach nicht“, ließ uns Steinacher in die laufende Forschungsarbeit blicken.

Ein neues Leben in Amerika

Zu einer Sammlung zu individuellen Dokumenten konnte Pater Oberholzer viel aus den Dokumenten des ehemaligen Privatsekretärs Pius XII., Pater Leiber, herausziehen. Dieser korrespondierte nach dem Zweiten Weltkrieg viel mit dem Prinzen Albrecht von Bayern. Der deutsche Adlige wollte Landwirte, die, aus den ehemaligen Deutschen Ostgebieten vertrieben wurden, in Südamerika ansiedeln, da man dort deutsches Knowhow schätzte und brauchte. Dieses Vorhaben wurde zusammen mit Pater Leiber realisiert. „Und es ist eben sehr gut möglich. Wenn ich die Reise von Tausenden von Leuten vorbereite, ist klar, dass da natürlich diese und jene Trittbrettfahrer aufspringen“, erklärte Pater Oberholzer, wie dann auch viele NS-Täter über diese Migrationswelle nach Südamerika kamen. Allerdings gab es einen bedeutenden Unterschied zu anderen päpstlichen Hilfsorganisationen: „Bei Pater Leiber sehe ich immer wieder, dass er in der Korrespondenz darauf insistiert hat, dass die Vergangenheit der Person sauber ist. Dass er da ein Auge zugedrückt hätte, das habe ich bisher nicht gefunden.“

Doch es gab auch kirchliche Würdenträger, die gezielt ehemaligen Tätern helfen wollten und dies auch verwirklichten. Ein prominentes Beispiel ist der österreichische Titularbischof Alois Hudal. Der Rektor des Päpstlichen Instituts S. Maria dell'Anima in Rom war Antisemit und Sympathisant des Nationalsozialismus, was ihn allerdings nicht daran hinderte, während der Besetzung Roms durch die Nazis 40 Juden in seinem Institut zu verstecken. Nach dem Krieg verhalf Hudal Franz Stangl, der ehemaligen Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, zur Flucht. 

Man wusste, wen man vor sich hatte

Aus den Unterlagen die nun den Forschern vorliegen, kann man herauslesen, dass viele deutsche Kriegsverbrecher bei ihrer Kommunikation mit den päpstlichen Stellen ihre Vergangenheit nicht zu verstecken versuchten. „Es kamen auch Gesuche von verarmten Leuten aus dem Elsass. Die haben auch keinen Hehl daraus gemacht, dass sie in der Partei waren, wollten aber dann Hilfe, weil sie eben wirklich materiell am Rumpf waren“, erzählte Pater Oberholzer über die Hilfegesuche, die Robert Leiber bekam. In diesem konkreten Fall weiß man allerdings nicht, was aus diesen Anfragen geworden ist, da sich im Archiv nur der Briefeingang befindet.

Der Vatikan selbst rief die Pontificia Commissione Assistenza (kurz: PCA, dt: Päpstliche Hilfskommission) ins Leben. Diese sollte die Flüchtlingsströme koordinieren und vermittelte Hilfesuchende an das Rote Kreuz. Viele dieser Hilfesuchenden verheimlichten nicht, was sie im Krieg gemacht haben, wie Steinacher in seinem Vortrag auf der Konferenz zu Pius XII. darlegte: „Ein weiteres Beispiel für die wissentliche Unterstützung von Nazi-Funktionären durch die PCA und das Rote Kreuz ist der Fall des österreichischen Katholiken Walter Ottowitz. Er wollte 1948 nach Argentinien auswandern und legte in einer kurzen Biografie seine Karriere in der Nazi-Partei dar, als Anlage zu seinem Antrag auf Rotkreuz-Reisepapiere. Dies schloss ihn weder von der PCA, noch vom Roten Kreuz aus, und auch ihm wurden Reisepapiere ausgestellt.“ Im Gegensatz zu Hudal hatte dieses Vorgehen jedoch keine ideologische Komponente, sondern man wollte „in der Tradition des guten Samariters“, wie es Steinacher beschrieb, allen Menschen, die sich an die PCA wenden, Hilfe anbieten.

Der beginnende Kalte Krieg

In vielen Fällen waren aber auch andere Stellen an dem Schutz von NS-Kriegsverbrechern beteiligt. Im Kontext des Kalten Krieges brauchte man Experten, oft fand man diese in Funktionären der NS-Diktatur „Man hat hier oft bei NS-Tätern eine Kostenrechnung gemacht. Ist diese Person für uns hilfreich als Agent, als Quelle, um den neuen Feind Kommunismus zu bekämpfen? Oder soll man diese Leute vor Gericht stellen? In vielen Fällen hat man sich entschlossen, den Leuten zu helfen, um sie im frühen kalten Krieg einzusetzen“, erläuterte Steinacher. Im Gegensatz zu kirchlichen Stellen wurde allerdings von z.B. US-amerikanischer Seite der Schutz von NS-Verbrechern bereits viel früher aufgearbeitet und nicht geleugnet.

Die Alliierten sehen die päpstliche Hilfe für Verbrecher aus dem sogenannten „Dritten Reich“ zwar kritisch, doch verlor auch dies in Kontext des sich anbahnenden Kalten Krieges an Bedeutung, wie Steinacher in seinem Vortrag erklärte: „Am 4. Februar 1947 traf der britische Gesandte Francis Osborne beim Heiligen Stuhl mit Monsignore Tarquini zusammen, um erneut über die PCA und die Flucht mutmaßlicher Achsenverbrecher zu sprechen, wobei Tarquini dem Botschafter mitteilte, dass das Staatssekretariat des Vatikans nichts mit der PCA zu tun habe. Osborne wies diese Ansicht entschieden zurück und erklärte, die PCA sei eine vatikanische Organisation, ein Instrument der päpstlichen Nächstenliebe, und folglich könne die Verantwortung dafür nicht geleugnet werden. Das war 1947, und die Konfrontation im Kalten Krieg zwischen den westlichen Alliierten und den Sowjets spitzte sich zu. Die Bestrafung der Nazi-Kriegsverbrecher verlor zunehmend an Priorität, da die Zurückdrängung des Kommunismus andere Überlegungen übertrumpfte.“

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von viel Leid. Im Sinn der christlichen Nächstenliebe wollte auch die katholische Kirche allen Menschen Hilfe anbieten. Manche Bischöfe wollten wie Alois Hudal gezielt Nazis zur Flucht verhelfen, um sie vor der „Siegerjustiz“ zu schützen. Andere wollten im Sinn der Nächstenliebe Menschen helfen, ohne auf deren Vergangenheit zu schauen. Damit halfen sie allerdings hunderten Kriegsverbrechern, sich der Rechtsprechung der Alliierten zu entziehen. Aufgrund der schieren Masse an Flüchtlingen konnten auch Nazi-Täter sich unbemerkt in kirchliche Auffangnetze begeben und auf diesem Weg Europa verlassen. Zwar gab es schon damals Kritik an diesem Vorgehen, im Kontext des immer schwieriger werdenden Ost-West-Konfliktes gewann jedoch der Kampf gegen den Kommunismus immer mehr an Bedeutung, weshalb man dem Abtauchen der deutschen Kriegsverbrecher keine weitere Beachtung mehr schenkte.

(vatican news) 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

14. Oktober 2023, 17:46