„Kirche kann viel von Eltern lernen“
„Wir alle kennen die Dramen, die so viele Eltern heute zerreißen: Kinder, die trotz ihres guten Beispiels des christlichen Lebens und ihrer guten Ratschläge einen anderen Weg als den ihren einschlagen und sich durch Drogen, ausschweifendes Sex-Leben oder tragische Fehlentscheidungen selbst zerstören... Schließen die Eltern aber deshalb die Tür vor ihnen und werfen sie raus? Nein – sie respektieren ihre Entscheidungen und lieben sie weiterhin.“
Genau solle es auch die Kirche halten, so der Kapuziner, der schon seit über vierzig Jahren offizieller „Prediger des Päpstlichen Hauses“ ist und den Franziskus vor drei Jahren zum Kardinal erhoben hat. Die Kirche solle sich für den „Vorrang von Gnade und Barmherzigkeit vor dem Gesetz“ entscheiden.
Cantalamessas erste Adventspredigt dieses Jahres galt den Spitzenvertretern der römischen Kurie; er hielt sie in der vatikanischen Audienzhalle. Vor allem ging es ihm darum, die Unterschiede zwischen Johannes dem Täufer und Jesus herauszuarbeiten.
„Jesus wartet nicht darauf, dass die Sünder ihr Leben ändern, um sie willkommen zu heißen; er heißt sie willkommen, und das bringt die Sünder dazu, ihr Leben zu ändern. Alle vier Evangelien sind sich in diesem Punkt einig. Jesus wartet nicht darauf, dass die Samariterin ihr Privatleben in Ordnung bringt, bevor er sich mit ihr unterhält. Aber mit diesem Gespräch verändert er ihr Herz, und sie wird zu einer Verkünderin des Evangeliums. Das Gleiche geschieht mit Zachäus, mit Matthäus, dem Zöllner, mit der anonymen Sünderin, die ihm im Haus des Simon die Füße küsst, und mit der Ehebrecherin.“
Eine Änderung des Lebens ist keine Bedingung für die Annäherung an Jesus
Natürlich lasse sich aus diesen Beispielen „kein absoluter Maßstab ableiten, so Cantalamessa. Jesus habe den Menschen ins Herz geschaut, wir hingegen seien nicht Jesus.
„Die Kirche kann jedoch seinen Stil nicht missachten, ohne sich auf der Seite von Johannes dem Täufer wiederzufinden und nicht auf der Seite von Christus. Jesus missbilligte die Sünde unendlich viel mehr, als es die strengsten Moralisten tun, aber er zeigte im Evangelium ein neues Heilmittel auf: nicht Abstandhalten, sondern Annahme. Eine Änderung des Lebens ist in den Evangelien nicht die Bedingung für die Annäherung an Jesus; sie muss jedoch das Ergebnis (wenigstens vom Vorsatz her) nach der Annäherung an ihn sein. Denn die Barmherzigkeit Gottes ist bedingungslos – aber sie bleibt nicht ohne Folgen!“
Damit hatte Kardinal Cantalamessa eines der wichtigsten Stichworte im Pontifikat von Franziskus, nämlich Barmherzigkeit, aufgerufen. Der lateinamerikanische Papst hat der Barmherzigkeit 2016 sogar ein außerordentliches Heiliges Jahr gewidmet.
Im weiteren Verlauf seiner Adventspredigt ging Cantalamessa dann auf ein anderes theologisches Konzept ein, auf das Franziskus immer wieder zu sprechen kommt: dass Lehre und Tradition nämlich nicht etwas ein für alle Mal Fertiges sind, sondern sich weiterentwickeln. Auch hier nahm der Kardinal den Vorläufer Jesu, also Johannes den Täufer, zum Ausgangspunkt.
„Er ist kein großer Theologe; er hat eine sehr rudimentäre Christologie. Er kennt noch nicht die höchsten Titel Jesu: Gottessohn, Wort, Menschensohn. Er benutzt sehr einfache Bilder. ‚Ich bin nicht würdig, ihm die Schnürsenkel zu binden...‘ Aber wie schafft er es, trotz der Armut seiner Theologie, die Größe und Einzigartigkeit Christi spürbar zu machen! … Nach dem Vorbild von Johannes dem Täufer kann jeder ein Verkünder des Evangeliums sein!“
Wie sich die katholische Lehre weiterentwickelt
Als Papst Johannes Paul II. vor Jahrzehnten zu einer neuen Evangelisierung aufgerufen habe, hätten viele eingewandt, neu könne diese Evangelisierung zwar in ihrem Eifer, ihrer Methode, ihren Ausdrucksformen sein, nicht aber im Inhalt – der bleibe ja derselbe wie immer, es gebe kein neues Evangelium.
„All dies ist wahr. Es kann keine wirklich und völlig neuen Inhalte geben. Es kann aber neue Inhalte geben in dem Sinne, dass sie in der Vergangenheit nicht genug hervorgehoben wurden, dass sie im Schatten geblieben sind, unterbewertet wurden. Der heilige Gregor der Große sagte: ‚Scriptura cum legentibus crescit‘ (Moralia in Hiob, 20, 1, 1), die Schrift wächst mit denen, die sie lesen… Dieses Wachstum findet in erster Linie auf persönlicher Ebene im Wachstum an Heiligkeit statt; es findet aber auch auf universaler Ebene statt, in dem Maße, wie die Kirche in der Geschichte voranschreitet.“
Die Offenbarung – also „Schrift und Überlieferung zusammen“ – wüchsen im Lauf der Geschichte entsprechend den Anforderungen und auch „Provokationen“, mit denen sie konfrontiert würden. „Jesus hat den Aposteln versprochen, dass der Heilige Geist sie ‚in alle Wahrheit‘ führen wird (Joh 16,13), aber er hat nicht gesagt, für wie lange: ob in einer oder zwei Generationen, oder vielmehr - worauf alles hinzudeuten scheint - solange die Kirche auf der Erde pilgert.“
Das lasse sich, so Kardinal Cantalamessa, auch an den Bußrufen des Täufers aufzeigen. So würden von ihm immer, auch in der Messe, die Worte zitiert „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“; doch in Wirklichkeit sei dies „nur die Hälfte der Prophezeiung des Täufers über Christus“. Denn fast im selben Atemzug und in allen vier Evangelien definierte er Jesus als denjenigen, „der im Heiligen Geist tauft“ (vgl. Joh 1,33; vgl. Mt 3,11).
Warum Nietzsche ein Problem mit der Erlösung hatte
„Die christliche Erlösung ist also nicht nur etwas Negatives, ein ‚Wegnehmen der Sünde‘. Es ist vor allem etwas Positives: Es ist ein ‚Geben‘, ein Zuführen von neuem Leben, Leben des Geistes. Es ist eine Wiedergeburt! … Dieser positive Aspekt ist natürlich nie vergessen worden. Aber vielleicht ist er nicht immer genug betont worden. Wir sind in der westlichen Spiritualität Gefahr gelaufen, das Christentum vor allem in einer ‚negativen‘ Lesart zu deuten, als Lösung für das Problem der Erbsünde, also als etwas Düsteres und Deprimierendes. Dies erklärt zumindest teilweise seine Ablehnung durch große Teile der Kultur, wie sie in der Philosophie von Nietzsche und in der Literatur von dem norwegischen Dramatiker Ibsen vertreten werden. Die verstärkte Aufmerksamkeit für das Wirken des Heiligen Geistes und seiner Charismen, die seit einiger Zeit in allen christlichen Kirchen zu beobachten ist, ist ein konkretes Beispiel dafür, dass die Heilige Schrift ‚mit denen wächst, die sie lesen‘.“
(vatican news
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