Das Herz eines Hirten, der die Tür nie schließt
ANDREA TORNIELLI
„Nemo venit nisi tractus: ‚Niemand nähert sich Jesus, wenn er nicht angezogen wird‘, schrieb der heilige Augustinus und zielte damit auf die Worte Jesu: „Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht“ (Joh 6,44). Es ist immer das Wirken der Gnade, das am Anfang steht, wenn jemand von Jesus angezogen wird. Gott geht uns immer voraus, er ruft uns, er zieht uns an, er bringt uns dazu, einen Schritt auf ihn zuzugehen – oder er entfacht zumindest in uns den Wunsch, diesen Schritt zu tun, auch wenn wir dazu noch keine Kraft haben und uns gelähmt fühlen.
Eine Ritze in der Wand
Das Herz eines Hirten kann nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Menschen, die sich ihm mit der Bitte um Segen nähern, unabhängig von ihrer Situation, ihrer Geschichte, ihrem Lebensweg. Das Herz des Hirten ist sensibel für die Bitten derer, die ihre eigene Unvollkommenheit spüren und wissen, dass sie der Barmherzigkeit und Hilfe von oben bedürfen. Das Herz des Seelsorgers sieht in der Bitte um Segen eine Ritze in der Wand, einen winzigen Spalt, durch den die Gnade bereits am Werk sein kann. Und so ist sein erstes Anliegen, diese Ritze nicht zu schließen, sondern die Menschen willkommen zu heißen und um Segen und Barmherzigkeit für sie zu bitten, damit sie beginnen, Gottes Plan für ihr Leben zu verstehen.
Diese Grunderkenntnis scheint in „Fiducia supplicans“ durch, der Erklärung des Dikasteriums für die Glaubenslehre über die Bedeutung des Segens, die die Möglichkeit eröffnet, irreguläre – auch gleichgeschlechtliche – Paare zu segnen. Dabei wird klargestellt, dass der Segen in diesem Fall nicht bedeutet, ihre Lebensentscheidungen zu billigen, und es wird auch die Notwendigkeit bekräftigt, jegliche Ritualisierung zu vermeiden, die auch nur im entferntesten an eine Ehe erinnert. Das Dokument vertieft die kirchliche Lehre über Segnungen, indem es zwischen rituellen, liturgischen Segnungen und spontanen Segnungen unterscheidet. Letztere werden eher als Akte der Hingabe in Verbindung mit der Volksfrömmigkeit charakterisiert. Der Text konkretisiert zehn Jahre später die Worte von Papst Franziskus in „Evangelii gaudium“: „Die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben“ (Nr. 47).
Die Erklärung atmet den Geist der Evangelien
Die Erklärung atmet den Geist der Evangelien. Auf fast jeder Seite des Evangeliums bricht Jesus mit religiösen Traditionen und Vorschriften, mit der Ehrbarkeit und gesellschaftlichen Konventionen. Und er setzt Gesten, die die Wohlmeinenden, die selbsternannten „Reinen“ empören, diejenigen, die einen Schutzschild aus Normen und Regeln errichten, um Distanz zu halten, abzuweisen, Türen zu schließen. Fast auf jeder Seite des Evangeliums lesen wir, wie die Schriftgelehrten versuchen, den Meister mit tendenziösen Fragen in die Enge zu treiben, um sich dann angesichts seiner Barmherzigkeit und Freiheit zu entrüsten: „Er nimmt die Sünder auf und isst mit ihnen!“
Jesus war bereit, zum Haus des Hauptmanns von Kafarnaum zu gehen, um dessen geliebten Diener zu heilen – ohne zu befürchten, sich durch das Betreten der Wohnung eines Heiden zu verunreinigen. Er erlaubte der Sünderin, ihm die Füße zu waschen – trotz der verurteilenden und verächtlichen Blicken der Gäste, die nicht verstehen konnten, warum er die Frau nicht wegschickte. Er sah auf den Zöllner Zachäus, der auf einen Baum geklettert war, und rief ihn, ohne zuvor zu verlangen, dass er sich bekehrte und sein Leben änderte. Er verurteilte die Ehebrecherin nicht, die nach dem Gesetz die Steinigung verdient hatte, sondern entwaffnete buchstäblich ihre Henker, indem er sie daran erinnerte, dass auch sie - wie alle anderen - Sünder waren. Er betonte, er sei für die Kranken und nicht für die Gesunden gekommen, er verglich sich mit einem Hirten, der 99 Schafe unbeaufsichtigt lässt, um das eine, verirrte zu suchen. Er berührte den Aussätzigen, heilte ihn von seiner Krankheit und dem Stigma, ein „unberührbarer“ Ausgestoßener zu sein. Diese „Ausgestoßenen“ begegneten seinem Blick und fühlten sich wertgeschätzt; sie empfingen eine Umarmung der Barmherzigkeit, die ihnen ohne Vorbedingungen zuteil wurde. Indem sie fühlten, dass sie geliebt waren und dass ihnen vergeben wurde, erkannten sie, was sie waren: arme Sünder wie alle anderen, bekehrungsbedürftig, Bettler der Gnade.
„Die Fernen erreichen“
Papst Franziskus sagte im Februar 2015 zu neuen Kardinälen: „Was für Jesus zählt, ist vor allem, die Fernen zu erreichen und zu retten, die Wunden der Kranken zu heilen und alle wieder in die Familie Gottes einzugliedern Und das ist manchem ein Ärgernis! Vor dieser Art von Ärgernis hat Jesus keine Angst! Er denkt nicht an die Verschlossenen, für die sogar eine Heilung ein Ärgernis ist, die an jeglicher Öffnung Anstoß nehmen, an jedwedem Schritt, der nicht in ihr geistiges und geistliches Schema passt, an jeder Liebkosung oder Zärtlichkeit, die nicht ihren Denkgewohnheiten und ihrer ritualistischen Reinheit entspricht“.
Die „immerwährende katholische Lehre über die Ehe“, so die Erklärung des Glaubensdikasteriums, ändert sich nicht: Nur im Rahmen der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau „finden die sexuellen Beziehungen ihren natürlichen, angemessenen und vollständig menschlichen Sinn“. Man solle daher vermeiden, als Ehe anzuerkennen, „was keine Ehe ist“. Aber aus pastoraler und missionarischer Sicht sei es auch nicht angesagt, einem „irregulären Paar die Tür vor der Nase zu chließen, das um einen einfachen Segen bittet, etwa beim Besuch in einem Wallfahrtsort oder während einer Pilgerreise. Der jüdische Gelehrte Claude Montefiore machte die Besonderheit des Christentums genau darin aus: „Während andere Religionen beschreiben, dass der Mensch Gott sucht, verkündet das Christentum einen Gott, der den Menschen sucht.... Jesus lehrte, dass Gott nicht auf die Reue des Sünders wartet, sondern ihn sucht, um ihn zu sich zu rufen“. Die offene Tür eines Gebets und ein kleiner Segen können ein Anfang sein, eine Gelegenheit, eine Hilfe.
(vatican news)
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