Liturgie vom Leiden und Sterben Christi: Wortlaut der Predigt
P. Raniero Card. Cantalamessa, ofmcap
„WENN IHR DEN MENSCHENSOHN ERHÖHT HABT,
WERDET IHR ERKENNEN, DASS ICH ES BIN“
Predigt für Karfreitag 2024
„Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin“ (Joh 8,28). Dieses Wort sprach Jesus am Ende eines heftigen Streits mit seinen Widersachern. Im Johannesevangelium gibt es ein Crescendo zu den früheren „ICH BIN“-Aussagen Jesu. Er sagt nicht mehr: „Ich bin dies oder jenes: das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Auferstehung und das Leben“... Er sagt einfach „ICH BIN", ohne jede Präzisierung. Das gibt seiner Aussage eine absolute, metaphysische Tragweite. Er erinnert bewusst an die Worte aus Exodus 3,14 und Jesaja 43,10-12, in denen Gott selbst sein göttliches „Ich bin“ verkündet.
Die beispiellose Neuheit dieses Christuswortes erschließt sich nur, wenn man auf das achtet, was der Selbstvergewisserung Christi vorausgeht: „Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt“, dann werdet ihr erkennen, dass „ICH BIN". Als ob er sagen wollte: Was ich bin - und damit „was Gott ist“ - wird man nur vom Kreuz aus erkennen. Der Ausdruck „emporgehoben werden“ im Johannesevangelium bezieht sich, wie wir wissen, auf das Ereignis des Kreuzes!
Wir stehen vor einer völligen Umwälzung der menschlichen Vorstellung von Gott und in gewissem Maße auch der alttestamentlichen Vorstellung von Gott. Jesus ist nicht gekommen, um die Vorstellung, die sich die Menschen von Gott gemacht haben, zu verbessern und zu vervollkommnen, sondern in gewissem Sinne, um sie umzustürzen und das wahre Gesicht Gottes zu offenbaren. Das ist es, was der Apostel Paulus als Erster verstanden hat, als er schrieb:
Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. 22 Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1 Kor 1,21-24)
So verstanden, erhält das Wort Christi eine universelle Tragweite, die diejenigen, die es lesen, in jedem Zeitalter und in jeder Situation, auch in unserer, herausfordert. Diese Umwälzung der Vorstellung von Gott muss in der Tat immer geschehen. Die Vorstellung von Gott, die Jesus zu verändern kam, tragen wir leider alle in uns, in unserem Unterbewusstsein. Wir können von einem einzigartigen Gott, einem reinen Geist, einer höchsten Entität und so weiter sprechen. Aber wie können wir ihn in der Vernichtung durch seinen Tod am Kreuz sehen?
Gott ist allmächtig, gewiss; aber welche Macht ist das? Gegenüber den menschlichen Geschöpfen ist Gott ohne jede Fähigkeit, nicht nur einschränkend, sondern auch abwehrend. Er kann nicht mit Autorität eingreifen, um sich ihnen aufzudrängen. Er kann nichts anderes tun, als die freie Entscheidung der Menschen bis ins Unendliche zu respektieren. Und so offenbart der Vater das wahre Gesicht seiner Allmacht in seinem Sohn, der vor den Jüngern kniet, um ihnen die Füße zu waschen; in ihm, der, auf die radikalste Ohnmacht am Kreuz reduziert, weiterhin liebt und vergibt, ohne jemals zu verurteilen.
Die wahre Allmacht Gottes ist die totale Ohnmacht von Golgatha. Es braucht wenig Macht, um sich zu zeigen; es braucht dagegen viel Macht, um beiseitezutreten, sich selbst auszulöschen. Gott ist diese unbegrenzte Macht, sich selbst zu verbergen! Exinanivit semetipsum: Er hat sich selbst vernichtet (vgl. Phil 2,7). Unserem „Willen zur Macht“ hat er seine freiwillige Ohnmacht entgegengesetzt.
Was für eine Lektion für uns, die wir uns mehr oder weniger bewusst immer aufspielen wollen! Was für eine Lehre vor allem für die Mächtigen der Erde! Für diejenigen unter ihnen, die nicht im Entferntesten daran denken, zu dienen, sondern nur an die Macht um der Macht willen; diejenigen, die - wie Jesus im Evangelium sagt – „die Völker unterdrücken" und sich darüber hinaus „Wohltäter nennen“ (vgl. Mt 20,25; Lk 22,25).
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Aber hebt nicht der Triumph Christi bei seiner Auferstehung diese Vision auf, indem er die unbesiegbare Allmacht Gottes bekräftigt? Ja, aber in einem ganz anderen Sinn, als wir zu denken gewohnt sind. Ganz anders als die „Triumphe“, die bei der Rückkehr des Kaisers von siegreichen Feldzügen entlang einer Straße gefeiert wurden, die in Rom noch heute den Namen „Via Trionfale" trägt.
Im Fall von Christus war es natürlich ein Triumph, und zwar ein endgültiger und unwiderruflicher Triumph! Aber wie wird dieser Triumph manifestiert? Die Auferstehung findet im Verborgenen statt, ohne Zeugen. Sein Tod - wir haben es in der Passionsgeschichte gehört - war von einer großen Menschenmenge gesehen worden und hatte die höchsten religiösen und politischen Autoritäten einbezogen. Als Auferstandener erscheint Jesus nur einigen wenigen Jüngern, die nicht im Rampenlicht stehen. Damit wollte er uns sagen, dass man nach dem Leiden keinen äußerlichen, sichtbaren Triumph, wie eine irdische Herrlichkeit, erwarten darf.
Damit wollte er uns sagen, dass man nach dem Leiden keinen äußeren, sichtbaren Triumph, wie etwa eine irdische Herrlichkeit, erwarten darf. Der Triumph wird im Unsichtbaren gegeben und ist von unendlich höherem Rang, weil er ewig ist! Die Märtyrer von gestern und heute sind der Beweis dafür.
Der Auferstandene offenbart sich durch seine Erscheinungen in ausreichendem Maße, um denen, die sich nicht von vornherein weigern zu glauben, eine sehr solide Grundlage für den Glauben zu bieten. Er erscheint nicht in ihrer Mitte, um ihnen das Gegenteil zu beweisen und ihren ohnmächtigen Zorn zu verspotten.
Jede Rache wäre unvereinbar mit der Liebe, die Christus den Menschen durch sein Leiden bezeugen wollte. Er verhält sich in der Herrlichkeit der Auferstehung ebenso demütig wie in der Vernichtung auf dem Kalvarienberg. Das Anliegen des auferstandenen Jesus ist es nicht, seine Feinde zu verwirren, sondern sich sofort auf den Weg zu machen, um seine verlorenen Jünger und vor ihnen die Frauen, die nie aufgehört hatten, an ihn zu glauben, zu beruhigen.
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In der Vergangenheit sprach man gerne vom ,Triumph der Heiligen Kirche'. Man betete für ihn und erinnerte sich an seine historischen Momente und Gründe. Aber welche Art von Triumph hatte man im Sinn? Heute wissen wir, wie sehr sich dieser Triumph von demjenigen Jesu unterschied. Aber wir sollten nicht über die Vergangenheit urteilen. Es besteht immer die Gefahr, ungerecht zu sein, wenn wir die Vergangenheit mit der Mentalität der Gegenwart beurteilen.
Nehmen wir lieber die Einladung an, die Jesus von der Höhe seines Kreuzes aus an die Welt richtet: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken." (Mt 11,28). Man könnte fast an eine Ironie, an eine Verhöhnung denken! Einer, der selbst keinen Stein hat, auf den er sein Haupt legen könnte, einer, der von den Seinen verstoßen und zum Tode verurteilt wurde, einer, „vor dem man sein Angesicht verhüllt, um ihn nicht zu sehen“ (vgl. Jes 53,3), wendet sich an die ganze Menschheit, an allen Orten und zu allen Zeiten, und sagt: „Kommt alle zu mir, ich will euch erquicken."
Komm du, der du alt, krank und einsam bist; du, den die Welt im Elend, im Hunger oder unter Bomben sterben lässt; du, der du wegen deines Glaubens an mich oder wegen deines Kampfes für die Freiheit in einer Gefängniszelle schmachtest; komm du, Frau, Opfer von Gewalt. Kurzum, alle, niemand ist ausgeschlossen: Kommt zu mir und ich werde euch Ruhe geben! Habe ich nicht feierlich versprochen: „Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen." (Johannes 12,32)?
Aber welche Erquickung kannst du uns geben, du Mann des Kreuzes, der du am verwahrlostesten und müdesten bist unter denen, die du trösten willst? Kommt zu mir, denn ICH BIN! ICH BIN Gott! Ich habe mich von eurer Vorstellung von Allmacht losgesagt, aber ich behalte meine Allmacht, die die Allmacht der Liebe ist. Es steht geschrieben: „Das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen." (1 Kor 1,25).
Ich kann Erquickung schenken, auch ohne die Müdigkeit und den Überdruss in dieser Welt zu beseitigen. Fragt diejenigen, die es erlebt haben!
Ja, o gekreuzigter Herr, mit einem Herzen voller Dankbarkeit verkünden wir an dem Tag, an dem wir deines Leidens und Sterbens gedenken, mit deinem Apostel Paulus mit aller Stimme:
Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? (…) Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Röm 8,35-39)
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