Neuer EU-Botschafter beim Papst: „Viele Gemeinsamkeiten“
Christine Seuss - Vatikanstadt
Seit diesem Donnerstag ist der Deutsche Martin Selmayr offiziell Botschafter der Europäischen Union beim Heiligen Stuhl. Nach Spitzenposten in Brüssel und Erfahrungen im diplomatischen Auslandsdienst startet er nun als bilateraler Botschafter beim Heiligen Stuhl, San Marino und beim Malteserorden; als Leiter der Europäischen Delegation in Rom ist er auch für die diplomatischen Beziehungen der EU zu den Rom-basierten UN-Institutionen verantwortlich.
Die Begegnung mit Franziskus am Donnerstagmorgen werde er „nie vergessen“, so Selmayr im Gespräch mit Radio Vatikan. Der Papst habe ihn mit seiner Menschlichkeit, Persönlichkeit und Wärme sehr beeindruckt. Gleichzeitig dankt er dem Papst für seine Bemühungen um den Frieden in der Welt.
„Der Papst ist sicher eine der wichtigsten Stimmen auf der Welt, die glaubhaft zu Frieden aufrufen kann. Und die Europäische Union ist für ihn ein wichtiger Partner, denn wir sind ja ein Friedensprojekt“, so Selmayr.
Ein bedeutendes Projekt der Hoffnung
Bei der Privataudienz habe er lange mit dem Papst über die Entstehung der Europäischen Union gesprochen, als fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der „Terror, Nazidiktatur, Judenverfolgung und Terrorismus über Europa“ gebracht hatte, Frankreich Deutschland die Hand reichte, um die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ zu gründen:
„Das machen wir uns gar nicht klar, was das bedeutet, nur fünf Jahre nach einem solchen Weltkrieg wieder anzufangen“, meint Selmayr. Er sieht dies auch in der aktuellen politischen Gemengelage als Hoffnungszeichen dafür, dass das unermüdliche Arbeiten am Frieden letztlich doch zum Erfolg führen kann: „Und das zeigt die Geschichte der Europäischen Union – und es zeigt auch, warum gerade in diesen Zeiten der Heilige Stuhl und die Europäische Union wichtige Partner sein können, jeder in seiner unterschiedlichen Aufgabe, Rolle und Verantwortung, aber doch im Ziele vereint.“
Wichtige Partner, im Ziel vereint
Die Europäische Union in ihrer aktuellen außenpolitischen Positionierung sei letztlich erst in ihren „Teenager-Jahren“, erinnert Selmayr mit Blick auf den 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon. Die gerade in jüngster Vergangenheit immer wieder heraufbeschworenen Gefahren für die Einheit der Europäischen Union wolle er deshalb auch nicht „übersteigert sehen“, so der Diplomat:
„Die Europäische Union ist schon oft totgeredet worden. Aber sie hat immer wieder zusammengefunden; es dauert manchmal etwas länger, und das ist für den äußeren Betrachter vielleicht manchmal frustrierend. Allerdings gibt es eben auch Zuversicht, weil in all diesen Krisen der vergangenen Jahre die Europäische Union trotz aller Unkenrufe immer wieder zusammengefunden hat. Ich glaube, jeder auf diesem Kontinent, auch der schärfste Skeptiker, weiß doch, dass wir mehr als 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand auf diesem Kontinent der Tatsache verdanken, dass wir friedlich über die Grenzen zusammenarbeiten und uns nicht gegenseitig, wie das noch in den Weltkriegen der Fall war, gegenseitig an die Kehle gehen.“
Auf die Grundlagen besinnen
Dies sei wohl die „wichtigste Lehre aus den vergangenen Jahrzehnten“, so wie es auch Papst Franziskus bei seinen Ansprachen in Belgien und Luxemburg erst jüngst wieder hervorgehoben habe: „Dass wir nämlich, wenn wir uns auf das besinnen, was unsere Grundlagen sind, auch viel gemeinsam erreichen können.“
Dazu gehöre auch, sich an die Schrecken und Opfer des Krieges zu erinnern, beispielsweise bei einem Besuch auf den Soldatenfriedhöfen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, so Selmayr, dessen Großväter selbst ranghohe Militärs waren: „Wenn man das sieht, weiß man, was die Europäische Union heute leisten kann, was sie jeden Tag leistet und warum sie auch in vielen Punkten ein Vorbild sein kann.“
Mahnung zur Aufnahme von Migranten
Besonders heiß wird gesellschaftlich und politisch in der Europäischen Union aktuell die Aufnahme von Flüchtlingen diskutiert; erst im Dezember 2023 hat das EU-Parlament verschärfte Asyl- und Flüchtlingsregeln verabschiedet. Die Stimme des Papstes sei in diesem Zusammenhang eine wichtige Mahnung, so der EU-Diplomat:
„Ich glaube, es ist wichtig, dass der Heilige Vater wie auch die kirchlichen Organisationen insgesamt uns immer wieder daran erinnern, dass wir einer der reichsten Kontinente der Welt sind. Deshalb haben wir eine moralische Pflicht, bei uns ankommenden Menschen in Not zu helfen, und deshalb müssen Menschenwürde und der Schutz des Schwächeren im Mittelpunkt unserer Asyl- und Flüchtlingspolitik stehen. Umgekehrt müssen wir auch immer wieder daran erinnern, dass wir Demokratien sind. Und wir haben nichts davon, wenn wir extrem großzügig in der Flüchtlingspolitik sind, aber populistische Kräfte das dann ausnutzen und unsere Demokratie kaputtmachen.“
Hier müsse eine „vernünftige Balance“ gefunden werden, so Selmayr, der zwar das Grundrecht auf Aufnahme Schutzbedürftiger in Europa nicht infrage stellt, aber auch an die Grenzen der Belastbarkeit erinnert. Die Frage sei nicht „mit einer einzigen Entscheidung“ oder auch nur mit dem jetzt verabschiedeten Paket zu lösen. „Da mahnt uns der Heilige Stuhl zu Recht, und auf der anderen Seite müssen wir immer sagen: Wir müssen mit unseren Demokratien daran arbeiten, glaubhafte Lösungen zu finden, die wir auch gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern vertreten können.“
Mensch im Zentrum
In diesem Zusammenhang sei auch der wirtschaftliche Erfolg der Europäischen Union zentral. Schließlich sei die EU gemeinsam mit ihren 27 Mitgliedsstaaten einer der größten Geldgeber für Entwicklungshilfe auf der Welt. Dass der Mensch jedoch im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung stehen müsse, sei bereits in der Präambel der Charta der Grundrechte festgeschrieben: „Der Mensch steht im Zentrum des Handelns der Europäischen Union. Das ist die oberste Pflicht. Das sieht man in allen Politiken der Europäischen Union. Die Klimapolitik erfolgt aufgrund der Verantwortung für die nächste Generation. Die Regelung von Künstlicher Intelligenz erfolgt, weil wir wollen, dass Menschen Kontrolle über Technologie behalten und nicht die Technologie uns kontrolliert. Und gerade in diesem Punkt finden wir mit dem Heiligen Stuhl sehr, sehr viele Gemeinsamkeiten“, so Selmayr.
Als Diplomat müsse man allerdings auch manchmal Positionen vertreten, die vom Gegenüber nicht geteilt würden, räumt er ein: „Das gehört dazu. Und ich glaube, das ist gerade das, was wir gelernt haben in der Europäischen Union – dass wir Unterschiede aushalten und dass wir dann zivilisiert darüber diskutieren, wie man diese Unterschiede überwinden kann.“ Respekt sei hier die Basis, aber auch das gemeinsame Werte-Konzept, auf das man sich gerade in Rom, bei der Arbeit mit den bi- wie multilateralen diplomatischen Partnern, sehr einfach verständigen könne.
Die Tatsache, dass der Papst Europa nicht nur als Vorbild lobt, sondern auch schon einmal als „alte Jungfer“ kritisiert, nimmt Selmayr mit Humor: „Auch die Europäische Union ist eine Organisation, die manchmal Kritik verdient. Also, auch wer die Europäische Union vertritt, wird nicht sagen: Es ist alles perfekt. Die Organisationen, die ‚perfekt‘ sind, die findet man in Diktaturen, in absolutistischen Regimen! In der Demokratie, im Pluralismus, muss man immer daran arbeiten, sich zu verbessern. Und das gilt auch für die Europäische Union. Das heißt, Kritik müssen wir ertragen, auch zuhören, und das, was daran berechtigt ist, aufnehmen.“
Berechtigte Kritik aufnehmen und Entwicklungen erklären
Andererseits gelte es, in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass die Europäische Union sich gerade in den vergangenen Jahrzehnten stark weiterentwickelt habe. Wer beispielsweise heute die Auffassung vertrete, dass die Europäische Union „nur ein Markt“ sei, habe die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre nicht verfolgt:
„Und das müssen wir immer wieder erklären. Auch das gehört zur Diplomatie dazu. Erklären, Verständnis schaffen, Brücken bauen in alle Richtungen, die daran Interesse haben.“ Gerade in Rom sehe er für seine Organisation, die für Frieden und Freiheit, aber auch Wohlstand und humanitäre Hilfe einstehe, besonders großes Interesse, so der EU-Diplomat Martin Selmayr.
Der Heilige Stuhl und die Europäische Union unterhalten seit 1970 diplomatische Beziehungen; der erste EU-Botschafter beim Heiligen Stuhl wurde 2006 akkreditiert.
(vatican news)
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