Parolin: „Wir dürfen nicht vor der Unabwendbarkeit des Krieges kapitulieren“
Andrea Tornielli
„Wir dürfen nicht vor der Unabwendbarkeit des Krieges kapitulieren! Ich hoffe aufrichtig, dass dieser traurige Tag, der tausendste seit Beginn des großangelegten Krieges gegen die Ukraine, alle zur Verantwortung ruft, vor allem jene, die das Blutbad verhindern können“. Das betonte Kardinal Pietro Parolin in einem Interview mit Vatikan-Medien am Vorabend seiner Abreise zum G20-Gipfel in Brasilien. Der vatikanische „Außenminister“ war im vergangenen Juli in die Ukraine gereist und hatte Lemberg, Odessa und Kyiv besucht.
Welche Gefühle löst dieser Anlass bei Ihnen aus?
Es kann nur eine tiefe Traurigkeit sein, denn man kann nicht gleichgültig bleiben angesichts dieser Nachrichten, die uns jeden Tag erreichen und von Tod und Zerstörung sprechen. Die Ukraine ist ein Land, das angegriffen, das gemartert wurde; das das Opfer ganzer Generationen von Männern – Jung und Alt – miterlebt, die dem Studium, der Arbeit, ihren Familien „entrissen“ wurden, um an die Front geschickt zu werden. Es erlebt das Drama derer, die ihre Lieben unter den Bomben, bei Drohnenangriffen sterben sehen – und wird Zeuge des Leids derer, die ihre Häuser verloren haben oder wegen des Krieges in äußerst prekären Verhältnissen leben müssen.
Was können wir tun, um der Ukraine zu helfen?
Als gläubige Christen können und müssen wir zuallererst beten. Wir müssen Gott anflehen, die Herzen der „Kriegsherren“ zu bekehren. Wir müssen weiter um die Fürsprache Marias bitten: der Mutter, die in den Ländern, die vor vielen Jahrhunderten die Taufe empfangen haben, besonders verehrt wird. Zweitens müssen wir uns bemühen, es den Leidenden, den Pflegebedürftigen, den Menschen, die frieren müssen und denen es an allem fehlt, nicht an Solidarität fehlen zu lassen. Die Kirche in der Ukraine tut so viel für die Bevölkerung, indem sie das Schicksal eines Landes teilt, das sich Tag für Tag im Krieg befindet. Drittens müssen wir unsere Stimme erheben, als Gemeinschaft, als Volk, um Frieden einzufordern. Wir können uns Gehör verschaffen, wir können fordern, dass unsere Bitten um Frieden gehört und berücksichtigt werden. Wir müssen Nein sagen zum Krieg, zu dem verrückten Wettrüsten, das Papst Franziskus immer wieder anprangert. Es stimmt, dass angesichts dessen, was geschieht, ein verständliches Gefühl der Hilflosigkeit entstehen kann – aber es stimmt auch, dass wir gemeinsam, als eine Menschheitsfamilie, viel bewirken können.
Was ist heute nötig, um wenigstens den Lärm der Waffen verstummen zu lassen?
„Um wenigstens den Lärm der Waffen verstummen zu lassen“: das kann man wirklich mit gutem Recht sagen. Die Aushandlung eines gerechten Friedens braucht nämlich Zeit, während ein von allen Parteien geteilter Waffenstillstand – der in erster Linie von Russland ermöglicht wird, das den Konflikt begonnen hat und die Aggression stoppen sollte – sogar innerhalb weniger Stunden zustande kommen könnte, wenn man es nur wollte. Wie der Heilige Vater oft sagt, brauchen wir Menschen, die auf Frieden, nicht auf Krieg setzen; Menschen, die sich der enormen Verantwortung bewusst sind, die die Fortsetzung eines Konflikts mit unheilvollen Folgen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ganz Europa, ja die ganze Welt bedeutet. Ein Krieg, der uns in eine nukleare Konfrontation, d.h. in den Abgrund zu ziehen droht. Der Heilige Stuhl versucht alles in seiner Macht Stehende, um den Dialog mit allen aufrechtzuerhalten, aber man hat das Gefühl, dass die Uhr der Geschichte zurückgedreht wird. Diplomatisches Handeln, die Geduld des Dialogs, die Kreativität des Verhandelns scheinen verschwunden zu sein, ein Überbleibsel der Vergangenheit. Und es sind die unschuldigen Opfer, die den Preis dafür zahlen. Der Krieg raubt Generationen von Kindern und Jugendlichen ihre Zukunft, schafft Spaltungen und schürt Hass. Wie sehr brauchen wir doch Staatsmänner mit Weitblick, die zu mutigen Gesten der Demut fähig sind und an das Wohl ihrer Völker denken! Vor vierzig Jahren wurde in Rom der Friedensvertrag zwischen Argentinien und Chile unterzeichnet, mit dem der Streit um den Beagle-Kanal unter Vermittlung des Heiligen Stuhls beigelegt wurde. Einige Jahre zuvor waren die beiden Länder fast an der Schwelle zum Krieg angelangt, die Armeen waren bereits mobilisiert. Gott sei Dank konnte das alles dann doch noch verhindert werden: viele Menschenleben wurden verschont, viele Tränen nicht geweint. Warum ist es nicht möglich, diesen Geist heute, im Herzen Europas, wiederzufinden?
Glauben Sie, dass es heute noch Verhandlungsspielraum gibt?
Auch wenn die Vorzeichen nicht gutstehen, sind Verhandlungen doch immer möglich und wünschenswert für alle, die die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens hochhalten. Verhandlungen zu führen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Mut. Der Weg der „ehrlichen Verhandlungen“ und „ehrlichen Kompromisse“ – und hier beziehe ich mich auf das, was Papst Franziskus bei seiner jüngsten Reise nach Luxemburg und Belgien gesagt hat – , der Dialog ist der Königsweg, den jene beschreiten sollten, die das Schicksal der Völker in ihren Händen halten. Ein Dialog, der nur geführt werden kann, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen den Parteien besteht. Und das setzt den guten Willen aller voraus. Wenn man dem anderen nicht wenigstens ein Minimum an Vertrauen entgegenbringt; wenn man nicht aufrichtig handelt, bleibt alles blockiert. Und so wird in der Ukraine, im Heiligen Land wie in so vielen anderen Gebieten der Welt weiter gekämpft und gestorben. Wir dürfen nicht vor der Unvermeidbarkeit des Krieges kapitulieren! Ich hoffe aufrichtig, dass dieser traurige Tag, der tausendste seit dem Ausbruch der militärischen Aggression gegen die Ukraine, alle zur Verantwortung ruft, vor allem jene, die dem Gemetzel, das wir gerade erleben, Einhalt gebieten können.
(vatican news)
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