Syrien: Neuer Machthaber macht Christen Zusicherungen
Dabei sicherte der frühere Islamist, der sich jetzt lieber mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad al-Sharaa vorstellt, den Christen in Syrien zu, sie könnten unbehelligt im Land bleiben und ihre Religion frei ausüben.
„Das ist ein Ereignis, das in der Geschichte Syriens bis vor drei Wochen unvorstellbar war“, sagt uns der päpstliche Nuntius in Damaskus, Kardinal Mario Zenari, in einem Interview vom Neujahrstag. Der aus Italien stammende Vatikandiplomat hat trotz des Bürgerkriegs in Syrien ausgeharrt und sich über das Treffen al-Golanis mit Kirchenführern Bericht erstatten lassen.
„Die anwesenden Bischöfe und Priester haben eine gewisse Hoffnung für die Zukunft Syriens geäußert. al-Golani versprach, dass es ein Syrien für alle sein wird, ein Syrien ohne Ausgrenzung, und zum Schluss wünschte er ein frohes Weihnachtsfest und ein Jahr des Friedens. Ich muss noch dazusagen, dass er bei der Begegnung extra auf die religiösen Autoritäten aus Aleppo warten wollte, die sich etwas verspätet hatten; es ging erst los, als alle anwesend waren. Das ist etwas Besonderes, das hoffentlich Gutes verheißt.“
Der neue starke Mann in Damaskus, der vor kurzem mit seiner Rebellengruppe überraschend die jahrzehntelange Herrschaft des Assad-Clans beendete, ist erst 42 Jahre alt. Von seinen Anfängen bei der Terrororganisation al-Qaida hat er sich losgesagt, doch die USA stufen ihn immer noch als Terroristen ein. Zenari ist vorsichtig optimistisch, was die Zukunft der Christen in Syrien betrifft. Beim Treffen mit al-Golani war er nicht dabei, aber auch er hatte schon Kontakte zur neuen Führung.
Weiterhin große Ängste bei Christen
„Ich hatte vor einer Woche die Gelegenheit, den neuen Außenminister zu treffen; ich bin auch Dekan des Diplomatischen Korps, und er wollte mich sehen. Auf der Chef-Ebene sind wir uns, das muss ich sagen, über bestimmte Prinzipien und Grundwerte einig; aber natürlich wollen wir dann Taten sehen, von Worten zu Taten übergehen. Auf jeden Fall haben alle Bischöfe beim Treffen am Silvestertag und bei vorhergehenden Treffen unter anderem in Aleppo einen gewissen Optimismus an den Tag gelegt. Dabei hegen nicht wenige Christen noch große Ängste; viele wollten Syrien so schnell wie möglich verlassen.“
Ein Exodus der christlichen Minderheit, der schon seit langem in Gang ist – und den Zenari irgendwie aufzuhalten hofft. „Ich habe den Christen sofort gesagt: Habt keine Angst, bleibt! Jetzt ist nicht die Zeit, Syrien zu verlassen, sondern es ist die Zeit, auch für Christen außerhalb des Landes, zurückzukehren. Denn wir müssen gut sichtbar bleiben, und man gibt uns zumindest in Worten ja auch die Möglichkeit dazu. Wir müssen beim Wiederaufbau des neuen Syrien dabei sein, indem wir die Werte der Wahrung der Menschenrechte, der Freiheit und des Respekts für alle voranbringen. Wehe uns, wenn wir dabei fehlen!“
„Christen müssen jetzt beim Wiederaufbau dabei sein“
Vor dem Beginn des Bürgerkriegs machten Christen in Syrien ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung aus; dem Regime der Familie Assad standen sie mehr oder weniger nahe. Heute ist ihre Zahl auf unter zwei Prozent abgerutscht – wegen starker Bedrängnis durch islamische Terroristen und wegen der Folgen des Bürgerkriegs. 2011 lebten anderthalb Millionen Christen im Land, mittlerweile spricht man von nur noch 300.000. Davon sind etwa 192.000 katholisch –das entspricht einem Prozent der Gesamtbevölkerung.
„Jeder ist frei zu tun, was er will, aber als Nuntius bitte ich um Engagement der Christen, ich bitte besonders die Menschen darum, die imstande wären, einen besonderen Beitrag zu leisten. Bald wird die Ausarbeitung der neuen Verfassung beginnen: Ich appelliere daher an diejenigen, die einen gewissen Hintergrund im Verfassungsrecht haben, sowie an Ärzte und an Ingenieure. Es ist an der Zeit, die Ärmel hochzukrempeln! Ich sage dies allen Syrern, aber vor allem den Christen. Wenn sie uns eines Tages nicht mehr wollen, was ich nicht hoffe, dann werden wir uns verabschieden. Aber wir müssen jetzt dabei sein!“
Weihnachten sei dieses Jahr „in einer Atmosphäre der Freude und der Hoffnung“ gefeiert worden, sagt Zenari – und setzt hinzu: „Aber in bestimmten Gemeinschaften auch mit einer gewissen Angst.“ Er habe sich im Fernsehen die Öffnung der Heiligen Pforte des Petersdoms durch Papst Franziskus angesehen; dabei sei ihm der Gedanke gekommen, dass Syrien doch vor wenigen Wochen noch „tot und begraben“ gewesen sei.
„Und ich habe vor Beginn des Heiligen Jahres immer wieder festgestellt, dass es in den Herzen vieler Menschen in Syrien keine Vision von einer Zukunft gibt. Plötzlich, ganz unerwartet, ist diese verschüttete Hoffnung wieder aufgetaucht, ist eine Bresche geschlagen worden. Eine große Tür der Hoffnung, wie die des Petersdoms, hat sich geöffnet – nur einen Spalt, aber doch geöffnet. Das ist schon etwas…“
Die Gräuel in den Gefängnissen
Geöffnet haben sich im neuen Syrien in den letzten Wochen auch die Türen der Gefängnisse. Dadurch kamen unvorstellbare Gräuel ans Tageslicht. Kardinal Zenari spricht von „großer Traurigkeit“ und „tiefer Bewegung“: „Wir haben“, so sagt er, „Weihnachten auch über Massengräbern gefeiert“.
„Diese Türen des Grauens, die sich jetzt geöffnet haben, stellen auch eine Gewissensprüfung für jeden von uns, für die internationale Gemeinschaft dar: Man hätte mehr tun können, um all dieses Leid zu verhindern. Aber es gibt in Syrien weiterhin eine gewisse Angst. Ich sehe die große Gefahr, in eine Spirale der Rache und der Hinrichtungen im Schnellverfahren zu geraten. Wehe, wenn man in diese Spirale gerät! Es gibt Grund zum Nachdenken, auch auf Seiten der internationalen Gemeinschaft. Der Gerechtigkeit sollte auf reguläre, abgewogene Weise Genüge getan werden.“
Eine jahrelange Übergangsphase
Er habe in den sechzehn Jahren, die er in Syrien inmitten eines blutigen Konflikts verbrachte, „viele barmherzige Samariter kennengelernt, gläubige Menschen aller Konfessionen“, so Franziskus‘ Mann in Damaskus. „Auch Personen, die von einer sehr tiefen Auffassung von der Würde des Menschen beseelt sind. Viele von ihnen haben ihr Leben verloren, sind getötet worden, als sie anderen zu Hilfe eilten. Wir müssen ihrer gedenken, wir haben eine große Verpflichtung zur Dankbarkeit.“
al-Golani, der neue starke Mann in der syrischen Hauptstadt, hat vor ein paar Tagen einen Zeitplan für die nähere Zukunft des Landes vorgelegt. Seine HTS-Miliz soll aufgelöst und in die nationalen Streitkräfte integriert werden; bis zu Wahlen könnte es vier Jahre dauern, für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung veranschlagt al-Golani einen Zeitraum von drei Jahren. Der päpstliche Nuntius setzt sich dafür ein, dass in der Verfassung die Rechte von Frauen deutlich benannt und gesichert werden.
Jetzt die Sanktionen aufheben
„Ich weiß, dass zu den Punkten, die Christen (aber nicht nur Christen) in der neuen Verfassung schützen wollen, auch dieser Punkt gehört; daran müssen wir arbeiten. Aber ich möchte vor allem einen weiteren Appell aussprechen. Die internationale Gemeinschaft reagiert auf die schönen Versprechungen aus Syrien abwartend; aber wenn das heißt, dass man mit Unterstützung und einer Aufhebung der Sanktionen noch abwarten will, dann sage ich Nein dazu! Ich habe eine große Aufforderung an die internationale Gemeinschaft: Macht euch an die Arbeit in Syrien! Dies ist ein sehr, sehr zerbrechlicher Frieden für Syrien, ein sehr heikler Moment.“
Der Vatikandiplomat erinnert an ein Zitat des heiligen Papstes Paul VI.‘, der einst geäußert hatte, der neue Name für Frieden sei Entwicklung.
„Ein Syrien, das zerstört ist, mit einer zusammenbrechenden Wirtschaft, mit beschädigter Infrastruktur, mit der Hälfte der Krankenhäuser, die nicht funktionieren, mit zerstörten Schulen, mit Menschen, die hungern, die keinen Strom haben... Wenn wir Frieden in Syrien wollen, müssen wir für Entwicklung sorgen! Der neue Name für Frieden ist Entwicklung, um Syrien zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen.“
Mario Zenari steht seit 1980 im diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls. Benedikt XVI. schickte ihn Ende 2008 als Nuntius nach Damaskus. 2016 nahm ihn Franziskus ins Kardinalskollegium auf –eine ungewöhnliche Ehre für einen Papstbotschafter.
Mit Kardinal Zenari sprach Antonella Palermo von Vatican News.
(vatican news – sk)
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