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Venezuela: „Jeden Tag sterben mehr Menschen“

Von einer horrenden humanitären Lage im Krisenstaat Venezuela berichtet der Bischof der im Nordosten des Landes gelegenen Diözese Carupano, Jaime Villarroel Rodriguez. „Wir wollen keine Invasion, brauchen aber Solidarität, Hilfe und politischen Druck durch die internationale Gemeinschaft“, sagt er.

Die einst von seinem Ölreichtum profitierende Nation liege heute darnieder, erklärte der Bischof am Mittwoch im Interview mit „Kathpress“. Die Bevölkerung leide an einer illegitimen Regierung, die ein „Massaker an der eigenen Bevölkerung“ durchführe, Diplomatischer Druck und Hilfe seitens der internationalen Gemeinschaft sei für einen Wandel im Land dringend nötig. „Denn jeder Tag, der verstreicht, sterben mehr Menschen“. Villarroel bereist derzeit Europa, um bei kirchlichen Stellen - u.a. in Linz und Wien - um Unterstützung für sein Land zu bitten.

Massenflucht momentan größte weltweit

Dass Machthaber Nicolas Maduro einen „Genozid“ betreibe und sein Land in ein „Konzentrationslager“ verwandelt habe, hatte bereits zuvor der Erzbischof von Merida und Administrator der Hauptstadtdiözese Caracas, Kardinal Baltazar Porras, erklärt. Bischof Villarroel bestätigte den drastischen Befund. „Unser Volk wird gezielt vernichtet, da es an Nahrung und Medizin fehlt, die Wirtschaft und Infrastruktur zerstört ist, überbordende Gewalt das Zepter schwingt und keine Möglichkeit für Entwicklung besteht. Als einziger Ausweg scheint die Migration: Die Massenflucht aus dem Land ist mit jährlich über einer Million Menschen, darunter viele Ärzte und Menschen mit Hochschulabschluss, die momentan größte weltweit.“

„Die Wartezeit an den Tankstellen beträgt vier bis sechs Tage - in einem Land, das so viel Öl hat wie kaum ein anderes.“

Bevor Maduros 2013 verstorbener Vorgänger Hugo Chavez 1999 an die Macht kam, förderte Venezuela ein Drittel der Ölmenge Saudi-Arabiens, nämlich 3,6 Millionen Barrel Rohöl täglich. Durch verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung, die Ölfirmen schröpfte und 80 Prozent aller Firmen konfiszierte, beträgt die Fördermenge heute weniger als ein Fünftel davon – „wobei ein Teil an Kuba geht, der andere Schulden begleichen soll“, erklärte der Bischof. In vielen Regionen gebe es gar keinen Treibstoff. „Die Wartezeit an den Tankstellen beträgt vier bis sechs Tage - in einem Land, das so viel Öl hat wie kaum ein anderes.“ Auch die Automobilproduktion sank im gleichen Zeitraum von jährlich 300.000 auf unter 500.

Leidendes Volk

Auch Stromausfälle sind in Venezuela aufgrund der völlig vernachlässigten Wartung des elektrischen Versorgungssystems an der Tagesordnung. „Im März blieb es in 98 Prozent des Landes für sechs Tage dunkel, womit auch alle Banken, Spitäler und öffentlichen Dienste sowie die Wasserversorgung und Telekommunikation ausfielen“, berichtete der Bischof von Carupano. Wer noch eine Arbeitsstelle habe, könne um seinen Verdienst nichts kaufen, betrage doch der Durchschnittsgehalt derzeit zwei US-Dollar, für Universitätsprofessoren zehn Dollar, für Spitalsärzte 20 bis 30 Dollar - und zwar pro Monat.

„Viele Familien können die Kinder nicht in die Schule schicken, da sie aus Schwäche kollabieren würden“

Das Leiden der Bevölkerung übersteige jegliche Vorstellungskraft, schilderte Villarroel. „Wegen der hohen Preise und des Ausfalls der Nahrungsmittelproduktion haben die meisten Menschen keinen Zugang zu adäquater Ernährung. Viele Venezolaner essen nur eine Mahlzeit pro Tag, die zudem kaum Proteine enthält. Viele Familien können die Kinder nicht in die Schule schicken, da sie aus Schwäche kollabieren würden oder da die Schulartikel nicht leistbar sind.“ Besonders drastisch sei die Lage für Kranke und Schwache. „Antibiotika sind ein Luxus und werden kaum gekauft, da die Menschen das Geld für die Ernährung brauchen. 80 Prozent der Medikamente gibt es schlichtweg nicht, was besonders Diabetiker und HIV-Patienten zu spüren bekommen. In den Spitälern starben im Vorjahr 15.000 Neugeborene, da es keine ärztliche Betreuung gab.“

Umbau des Landes

Die Schuld an der Misere sah Villarroel bei der auf Machterhalt versessenen Maduro-Regierung, die mit Polizei- und Militäreinsatz gegen jeglichen Bürgerprotest vorgehe, mit den Drogenkartellen Mittelamerikas sowie Kolumbiens Guerilla kooperiere und weiterhin jegliche Hilfslieferungen ins Land blockiere. Auf verschiedenen Ebenen und mit Unterstützung aus Kuba werde das Land zu einem kommunistischen Staat umgebaut. „Kinder werden in der Schule indoktriniert, indem die Geschichte umgeschrieben und der verstorbene Präsident Hugo Chavez als Vater aller Venezolaner bezeichnet wird.“ Über 700 politische Gefangene, die nur wegen ihrer Kritik an der Regierung gefoltert wurden - zwei davon bis zum Tod -, soll es in Venezuela geben, berichtete der Bischof.

„85 Prozent der Venezolaner wollen einen Wandel, doch dieser kann nur durch Hilfe aus dem Ausland erfolgen“

„85 Prozent der Venezolaner wollen einen Wandel, doch dieser kann nur durch Hilfe aus dem Ausland erfolgen“, erklärte Villarroel. Eine militärische Invasion befürworte er nicht: „Unser Land will Frieden. Für einen Wechsel auf demokratischem Weg brauchen wir aber Druck auf allen Ebenen für die Freilassung der politischen Gefangenen und für freie Wahlen unter internationaler Aufsicht.“ Die Hoffnung des Bischofs liegt dabei weiter bei Parlamentspräsident Juan Guaido, der sich am 23. Jänner verfassungsgemäß zum Übergangspräsidenten erklärte und von 50 Staaten anerkannt wurde, dann aber mit einem Putschversuch ähnlich scheiterte wie zuvor die Verhandlungen unter Vatikan-Vermittlung. Nun verhandle man unter Mithilfe Norwegens weiter. „Maduro verhandelt zwar, aber nur, um Zeit zu gewinnen und Gesellschaft wie Opposition weiter zu schwächen“, so Villarroel.

Tropfen der Hoffnung

In der Zwischenzeit gilt es, das Leid der Bevölkerung zu lindern, wobei laut dem Bischof die katholische Kirche in Venezuela die einzige Institution sei, die flächendeckend Hilfe leisten kann - wenngleich mit begrenzten Mitteln. „Mit Spenden kaufen wir Medizin und Nahrung, zudem betreiben wir im ganzen Land Suppenküchen für alte Menschen und Kinder. Wir vermitteln in unseren Einrichtungen Werte wir Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Menschenwürde oder den Wert der Arbeit, da die Maduro-Regierung mit ihrer Doktrin dies alles zerstört hat“, berichtete Villarroel. Zwar mute diese Hilfe wie ein Tropfen auf den heißen Stein an – „doch dieser Tropfen ist wichtiger als Gold. Er hält die Hoffnung im Volk aufrecht“, so der Bischof.

Von der Regierung werde die Kirche für diesen Einsatz als Feind betrachtet, nachdem sie bereits von Hugo Chavez als „Krebsgeschwür“ bezeichnet worden war. Der verstorbene Staatschef hatte mit wenig Erfolg die Gründung einer reformierten katholischen Nationalkirche versucht. Wenn heute die Hirtenbriefe der Unzufriedenheit und Ungerechtigkeit Ausdruck verleihen, lasse die Reaktion laut Villarroel nicht lange auf sich warten. "Von der Regierung beauftragte Gruppen gehen dann zu unseren Kirchen und streichen sie mit Parolen wie 'Tod den Priestern und Bischöfen' oder 'Raus mit der Kirche' an. Die Kirche bleibt aber auf der Seite der Leidenden und Unterdrückten. Wir können diesen Auftrag Jesu nicht verraten", so der Bischof von Carupano.

(kap – pr)
 

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03. Oktober 2019, 10:11