Irak: Es braucht einen grundlegenden Wandel
Anne Preckel und Fabio Colagrande – Vatikanstadt
Über die Ursachen der Gewalt sprach Radio Vatikan mit dem Iraker Younis Tawfik. Der Journalist und Autor beobachtet die Vorgänge in seinem Heimatland von Italien aus. Er ortet im Irak eine Wut, die sich mit den fadenscheinigen Maßnahmen der amtierenden Politiker nur schwer beruhigen lassen werde. Allein der Einsatz einer neutralen Übergangsregierung und Neuwahlen könnten einen Neuanfang einleiten, so Tawfik, der auf die Ursachen des Unmutes im Volk eingeht:
„Nach fast 16 Jahren der Unterwerfung sind die jungen Leute und das irakische Volk endlich aufgewacht. Sie lebten unter Regimen, die nichts für dieses Land getan haben, es seinem Schicksal und dem Verfall überließen und nur an ihr eigenes Wohlbefinden gedacht haben, während die große Mehrheit des Volkes im schlimmsten Elend lebte. Die Leute haben kaum Brot zum Essen, die jungen Leute suchen eine Heimat, doch fühlen sich dem Land nicht verbunden. Die Studierten finden keine Arbeit, stehen Schlange vor den Arbeitsagenturen. Korruption und Vetternwirtschaft sind überall gegenwärtig: Wenn man nicht in eine Partei eingeschrieben ist, findet man keine Arbeit. Dasselbe ist im Gesundheitswesen der Fall. Die Regierenden haben nicht ein Krankenhaus gebaut, keine Schulen! Alles im Irak kommt aus der Zeit vor 2003.“
Menschen wollen neue politische Führung
Der hochrangigste schiitische Kleriker im Irak, Ayatollah Ali al-Sistani, hatte den irakischen Premier dazu aufgefordert, eine neue Regierung zu bilden. Adel Abdul Mahdi hatte daraufhin seinen Rücktritt angekündigt. Doch dieser Schritt werde die Proteste des Volkes nicht beruhigen, so Tawfik. Die überwiegend jungen Demonstranten forderten eine komplett neue politische Klasse, um einen grundlegenden sozialen und politischen Wandel einzuleiten.
Den Demonstranten werde von den Regierenden vorgeworfen, Anhänger der Ba’th-Partei zu sein und sich auf das alte Saddam-Regime zu beziehen. In Wirklichkeit aber „wissen sie gar nicht, wer das ist“, so Tawfik: „Sie protestieren, weil sie keine Heimat haben.“ Dass nach dem Rücktritt des Premiers die Gewalt auf den Straßen nicht zur Ruhe kam, habe auch damit zu tun, dass es Massaker an Demonstranten gegeben habe und die Menschen jetzt Gerechtigkeit wollten.
„Der Rücktritt von Mahdi löst nichts, denn das Parlament bleibt dasselbe. Der nächste Premier wird wieder aus dieser politischen Klasse gewählt werden, die Leute ahnen, dass sich nichts ändern wird. Man muss eine Übergangsregierung aus Technokraten finden, die nicht den Parteien angehören und die das Land voranbringen, bis es zu Neuwahlen kommt. Das ist die einzige Möglichkeit, um die Gemüter zu beruhigen. Doch das größte Problem ist, dass der Irak wie die meisten arabischen Länder aus Stämmen besteht, und diese fordern Gerechtigkeit, doch die Art und Weise, wie sie das tun ist nach dem Stil ,Auge um Auge‘. Sie sind mit Waffen zu den Demos gegangen – damit besteht die Gefahr, dass es zu einem Bürgerkrieg kommt.“
Christen unterstützen friedliche Proteste
Die katholische Kirche hatte sich gegen eine Eskalation der Gewalt ausgesprochen und sich grundsätzlich hinter die Demonstranten gestellt, deren Forderungen sie als legitim wertet. „Ich stimme den Demonstrierenden zu, dass die Nation die Infrastruktur wieder aufbauen und die Verfassung reformieren muss“, sagte Erzbischof Alnaufali Habib Jajou von Basra Ende November. „Die Jugendlichen auf dem Platz fordern soziale Gerechtigkeit. Sie fordern Transparenz bei der Verwaltung öffentlicher Gelder und exemplarische Sanktionen für korrupte Beamte“, erklärte er.
Auch die christliche Parlamentarierin Rihan Hanna Ayoub unterstützte die Proteste. Die Regierung müsse zufriedenstellende Antworten auf die Fragen des Volkes finden, „bevor die Lage außer Kontrolle gerät“, sagte sie. Eine Eskalation der Gewalt heißen die christlichen Vertreter gleichwohl nicht gut. Tawfik dankt im Interview mit Radio Vatikan dem Einsatz der Christen im Irak.
„Ich möchte dem Patriarchen und allen Christen dafür danken und sie loben, dass sie mit auf die Straße gegangen sind und zur Muttergottes gebetet haben, dass sie die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Baghdad beschützen möge. Diese Geste wurde von der Mehrheit des irakischen Volkes sehr geschätzt, denn endlich haben die Christen Besitz von ihrem angestammten Land ergriffen und sind aktiv und friedlich dafür eingetreten, den Demonstranten zu helfen. Sie haben damit gezeigt, dass sie wahre Iraker sind.“
(vatican news – pr)
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