Indien: „Muslime sind deutlich schlechter dran als Christen“
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Das Staatsbürgerschaftsgesetz hatte für massive ablehnende Reaktionen bei Minderheiten gesorgt. Es diskriminiert Muslime, die aus mehrheitlich muslimischen Nachbarländern Indiens stammen: Sie sind von einer rascheren Einbürgerung ausgenommen, weil sie Muslime sind. Die Ausschreitungen in der Hauptstadt New Delhi haben sich inzwischen beruhigt, bestätigt Meyer-Antz. Vorüber sind die Spannungen aber noch lange nicht, glaubt der Fachmann:
Meyer-Antz: Diese ganze Auseinandersetzung geht so an die Grundlagen der postkolonialen indischen Gesellschaft, dass wir nicht davon ausgehen, dass es da dauerhaft zu Ruhe kommt.
Radio Vatikan: Was genau haben die Unruhen der Muslime mit der postkolonialen Situation Indiens zu tun?
Meyer-Antz: Ich hatte ein informelles Gespräch mit einem hochrangigen Inder. Der Mann erklärte mir, dass die Väter der Unabhängigkeit Indiens eigentlich keine wirklichen Inder gewesen seien, dass wir zu sehr der euroäischen Kultur verhaftet gewesen seien. Am Ende empfahl er mir, die Baghadvadgita zu lesen. Da sei alles erklärt. Das heißt, da kommt es nochmal zu einer Phase bei hochrangigen Indern der kulturellen Unabhängigkeitmachung, die sehr eng mit dem hinduistischen Glauben verbunden ist. Das steht in einer großen Spannung zur Grundlage dieses multikulturellen und multireligiösen Staates Indien, der seine säkulare Grundausrichtung in der Verfassung drinstehen hat. Wenn man jetzt dieses Gesetz, bei dem Muslime klar ausgenommen werden, mit der Verfassung kontrastiert, muss man erkennen: wenn das Gesetz bestehen bleibt, verändert sich schon etwas Grundsätzliches.
Radio Vatikan: Indien ist kulturell im Hinduismus verankert, dem etwa 70 Prozent der Bevölkerung angehören. Wie steht die Mehrheitsbevölkerung zu dem Einbürgerungsgesetz bzw. zur gezielten Diskriminierung von Muslimen? Wird das befürwortet oder abgelehnt? Was sagen gemäßigte Hindus?
Meyer-Antz: Eine ganze Reihe hochrangiger Intellektueller haben sich zu Wort gemeldet und es abgelehnt. Da gibt es eine Unterschriftenaktion, an der 620 Intellektuelle teilgenommen haben, die deutlich sagen, dass diese gesetzliche Initiative zu Toten führt. Was ich mit Sicherheit sagen würde, ist: Die aktuelle Regierung ist nur von 38 Prozent der Bevölkerung gewählt. Wegen des Mehrheitswahlrechts in Indien verfügt die BJP zwar über die absolute Mehrheit, und es ist demokratischer Usus, das Ganze als überwältigenden Wahlsieg zu beschreiben. Aber man kann nicht davon ausgehen, dass die Partei mehr als 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich hat.
Radio Vatikan: Wie sieht das damit auf dem Land aus?
Meyer-Antz: Ja, wenn Sie auf die Dörfer gehen, zu Menschen, die nur begrenzten Zugang zu Bildung haben, dann finden Sie oft eine Begeisterung für den Ministerpräsidenten und seine Politik, sodass das Bild schon sehr differenziert zu sehen ist.
Radio Vatikan: Während der blutigen Kundgebungen in Delhi hat der katholische Erzbischof von Delhi zu Solidarität mit den muslimischen Gläubigen aufgerufen. Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Indien?
Meyer-Antz: Was Erzbischof Coutts da gemacht hat, war eine großartige Initiative, die wir bei Misereor sehr begrüßt haben. Wir hatten traditionell immer das Gefühl, dass alle Minderheiten Indiens zu sehr bei sich sind. Wir haben mit aller Demut und Vorsicht die indischen Bischöfe immer versucht zu unterstützen und zu ermuntern, dass sie stärker in die Gesellschaft hinein für ein pluralistisches Indien wirken und für ein Miteinander der Religionen. Dieser Aufruf des Erzbischofs zu einem Treffen aller Religionsführer war eine großartige Sache.
Radio Vatikan: Wer leidet mehr unter dem Hindunationalismus: die Christen oder die Muslime? Und warum?
Meyer-Antz: Zur Zeit sind die Muslime betroffen. Das hat verschiedene Gründe. Es gibt auch arme Christen in Indien, aber der muslimischem Bevölkerungsschicht geht es deutlich schlechter. Entsprechend werden Christen auch eher als Partner oder als etwas Anderes identifiziert. Dazu tritt der Konflikt mit Pakistan.
Radio Vatikan: Das heißt?
Meyer-Antz: Muslime geraten unter Generalverdacht, gegen die Interessen Indiens zu arbeiten. Wogegen sich in den vergangenen Jahren die indischen Regierungen immer gewendet haben. Es gibt auch Ausschreitungen gegen Christen, aber grundsätzlich muss man sagen, den Muslimen geht es da deutlich schlechter, sie haben unsere Solidarität verdient.
Radio Vatikan: Einige Beobachter vergleichen den Hindunationalismus mit Rechtsextremismus bei uns oder mit Islamismus. Was ist da dran?
Meyer-Antz: Ich rate da zur Vorsicht. Bei der politischen Strömung der BJP sollte man klar die internationalen Sympathien erkennen. Präsident Trump ist mit offenen Armen empfangen worden, Präsident Bolsonaro aus Brasilien war bei einer großen Feierlichkeit in Indien. Die BJP selber würde ich aber nicht sofort in einen Topf werfen wollen mit der Politik von Herrn Trump oder von Herrn Bolsonaro. Das muss man differenzierter betrachten. Grundsätzlich wird der politische Hinduismus - so ähnlich wie wir auch vom politischen Islam sprechen - von Interessengruppen dazu benutzt, um ganz eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Zum Beispiel wird er dazu benutzt, in bestimmten Gebieten muslimischen Grundeigentümern den Grundbesitz streitig zu machen nach dem Motto, die gehören da nicht hin, das sind keine Hindus. Das ist ein Muster, das wir in Deutschland aus der ferneren Vergangenheit deutlich kennen.
Radio Vatikan: Das heißt, in der Wahrnehmung der Vorgänge in Indien werden Religion und Politik zu sehr vermischt?
Meyer-Antz: Der Hinduismus an sich ist eine menschen- und schöpfungsfreundliche Religion, die wir weiterhin entsprechend wertschätzen sollten. Man darf aber nicht vergessen, dass eine politische Benutzung in der Lage ist, im schlimmsten Fall 600 Millionen Menschen zu mobilisieren. Indien ist das zweitgrößte Land der Welt und zukünftig das größte. Da tickt eine Zeitbombe, die man nicht unterschätzen soll. Man soll bloß nicht den Namen einer Weltreligion, die friedfertig ist, mit isolationalistischen Tendenzen, die wir überall auf der Welt beobachten können, zu sehr verbinden.
(vatican news)
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