Roms Obdachlose in der Coronakrise: Ein deutscher Ordenspriester erzählt
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Radio Vatikan: Pater Tertünte, Sie helfen neben ihrer Tätigkeit als Ordenshistoriker obdachlosen Menschen in Rom. Was genau erleben Sie da?
P. Stefan Tertünte: Seit fünf Jahren mache ich das so, dass ich als Freiwilliger einmal die Woche abends der Gemeinschaft Sant´Egidio helfe, um zu obdachlosen Menschen im Zentrum von Rom Lebensmittel zu bringen und Informationen über Hilfsdienste und Zeit zu schenken. Das ist nun in Zeiten der Coronakrise anders als sonst. Einmal deshalb, weil wir selbst mit Masken und Handschuhen und vorgefertigten Tüten mit Lebensmitteln versuchen, die Sicherheitsmaßnahmen einzuhalten und den Abstand, den wir sonst nicht haben, zu den Obdachlosen größer zu halten. Neu ist auch, dass die Obdachlosen in der Situation sind, dass sie keine normalen „Einkünfte“ mehr haben. Das heißt, dass ihnen niemand mehr Spenden gibt, auf die sie angewiesen sind; dass sie nicht zu den Suppenküchen gehen können, die meist geschlossen sind. Und neu ist, dass ich Rom am Abend anders erlebe als sonst.
Radio Vatikan: Das heißt?
P. Stefan Tertünte: Die Plätze wie beim Pantheon sind menschenleer, es sind nur Polizisten und Obdachlose unterwegs. Das ist ein faszinierender Anblick auf das historische Rom. Gleichzeitig bricht es mir das Herz, wenn ich daran denke, dass gerade in der Gastronomie viele Menschen schon ihre Arbeit verloren haben.
Radio Vatikan: Was erzählen Ihnen die Obdachlosen – wie erleben sie die zusätzliche Bedrohung ihrer Existenz durch das Virus?
P. Stefan Tertünte: Die Obdachlosen haben nicht wirklich Angst vor dem Virus, dafür haben sie schon zu große andere Baustellen in ihrem Leben. Dazu kommt, dass viele von ihnen drogen- oder alkoholabhängig sind oder psychisch krank. Für sie ist nicht das große Problem sich anzustecken. Sie sind wütend auf das Virus, weil es ihr ohnehin schon schwieriges Leben noch schwieriger gestaltet. Wenn sie in Supermärkte hineingehen, werden sie ohnehin schon schief angeschaut. Aber in Zeiten des Virus nehmen die Menschen noch mehr Abstand von ihnen. Einige haben sich Masken besorgt, was im Augenblick sehr schwierig ist in Rom, damit sie wenigstens im Supermarkt nicht gleich hinausgeschmissen werden. Ansonsten merken wir, dass wir neue Gesichter treffen. Die Obdachlosen sind auf der Suche nach Plätzen, an denen sie vielleicht doch noch etwas Geld bekommen durch Spenden – sie merken aber auch, in dieser Zeit gibt es diese guten Plätze nicht.
Radio Vatikan: Gibt es eine Begegnung mit einem obdachlosen Menschen in letzter Zeit, die Ihnen besonders nachgeht?
P. Stefan Tertünte: Eine besondere Begegnung hatte ich letzte Woche Dienstagabend mit einer Frau, die ungefähr 40 Jahre alt ist, Barbara mit Vornamen. Sie ist erst seit drei Wochen auf der Straße. Das Haus, in dem sie lebte, wurde verkauft, sie wurde aus der Wohnung geworfen, hat auch leichte psychische Probleme. Sie findet sich jetzt in einem Leben wieder, auf das sie nicht vorbereitet ist. Die ersten Wochen hat sie gar nicht zu uns gesprochen. Jetzt am Dienstag hat sie angefangen zu sprechen und mich gebeten, beichten und die Kommunion empfangen zu können. Am anderen Tag bin ich mit zwei Decken, weil sie nur Kartons zum Schlafen hatte, in die Stadt gefahren, habe ihr die Beichte abgenommen und ihr die Kommunion gereicht. Ich muss sagen, das war ein Augenblick so inmitten der Stadt... auf einem der sonst sehr belebten Plätze waren wir allein und haben das miteinander gefeiert: das Sakrament der Versöhnung und die Eucharistie. Die Frau war sehr bewegt und gerührt und dankbar für diese Unterstützung. Ich selbst war auch gerührt, weil mir klar wurde, welche Wichtigkeit die Sakramente in einer solchen Situation haben können, in der es darum geht zu sehen, was sind unsere Vorräte? Was sind unsere geistlichen Vorräte, um diese Zeit überstehen zu können?
Radio Vatikan: Ist diese Frage der Grund, warum Sie sich als Ordenspriester, der noch viele andere Aufgaben in seiner Kongregation hat, gerade in dieser Zeit noch mehr für die obdachlosen Menschen einsetzen?
P. Stefan Tertünte: Es gibt Zeiten, besondere Zeiten, in denen Entscheidungen neu gefällt werden müssen. Ich habe das so empfunden, dass jetzt die Krise des Coronavirus eine Zeit ist, in der ich mich neu entscheiden muss, ob ich dieses Engagement unter diesen erschwerten Bedingungen weiter führen möchte oder nicht. Mir ist schnell klargeworden, dass es jetzt eine Zeit ist, in der es insbesondere Aufgabe von Christen ist, denen zur Seite zu stehen, die in dieser Lage am schwächsten sind. Das sind Menschen in Altenheimen, alte Menschen, die alleine zu Hause wohnen, und die Obdachlosen. Ich fühle mich ermutigt und angesprochen durch die Worte von Papst Franziskus beim Gebet auf dem Petersplatz. Er sprach vom Sturm, in dem wir leben, aber auch in mancher anderer Ansprache, in der er den Mut von Christen forderte, in dieser Situation Flagge zu zeigen und zu zeigen, dass wir an der Seite der am meisten Betroffenen stehen. So habe ich mich entscheiden, dieses Engagement weiter zu machen und musste mich gleichzeitig darauf einstellen, welche Auswirkungen das für mein Leben in der Kommunität hat.
Radio Vatikan: Sie leben ja im Generalat Ihrer Ordensgemeinschaft in Rom, wie reagieren Ihre Mitbrüder in diesen Wochen denn auf ihren Einsatz auf der Straße? In Rom gilt schließlich, wie in ganz Italien, eine Ausgangssperre mit streng geregelten Ausnahmen.
P. Stefan Tertünte: Ich lebe mit 40 Mitbrüdern aus 16 Ländern. Insgesamt muss man sagen, dass etliche verunsichert sind angesichts der Coronakrise. Viele, die zum Studium aus Afrika und Asien gekommen sind, waren absolut nicht darauf vorbereitet, in Europa auf solche Zustände zu treffen. Deshalb war und ist das für den einen oder anderen Mitbruder schwierig, dass ich einmal die Woche hinausgehe und mich dem aussetze, was sie als potentiell gefährlich erachten. Deshalb haben wir die Entscheidung getroffen, dass ich mich in dieser Zeit etwas abseits der Kommunität halte.
Radio Vatikan: Was heißt das im Einzelnen?
P. Stefan Tertünte: Ich esse alleine in einem separaten Raum, bei den Gebetszeiten halte ich mich im Hintergrund, nehme nicht mehr an Veranstaltungen wie dem Bibelteilen teil, damit ich von der Bildfläche verschwinde und mich auf Distanz von den anderen halte. Das fällt mir immer wieder mal schwer. Aber ich merke, dass ich sehr im Reinen bin mit meiner Entscheidung, sowohl was mein Engagement bei den Obdachlosen angeht als auch die Konsequenz in der Kommunität auf mich zu nehmen in dieser Zeit.
(vatican news)
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