Amazonien: „Indigene sind der Pandemie schutzlos ausgeliefert”
Christine Seuss und Fabio Colagrande - Vatikanstadt
Schwester Laura Valtorta gehört der Kongregation der Missionarinnen der Unbefleckten Empfängnis an. Sie ist für gewöhnlich im brasilianischen Manaus stationiert. Dort ist sie seit mehr als einem Jahr Teil eines Wanderteams, das die Eingeborenen des Amazonasgebietes unterstützt. Vor drei Monaten überraschte Covid-19 ihre Gruppe in Iquitos, der Hauptstadt des peruanischen Amazonasgebietes. Das Team wollte gerade zu einer der üblichen Touren im Dienst der Menschen in dieser Region aufbrechen, als die Pandemie die Ordensleute zwang, in der Gegend des Vikariats von San José Del Amazonas anzuhalten. Von hier aus hält sich Schwester Laura jedoch dank der modernen Kommunikationsmittel weiter über die Ausbreitung des Virus in der amazonischen Bevölkerung auf dem Laufenden.
„Die erste Auswirkung von Covid auf die Bevölkerung Amazoniens ist sicherlich der damit einhergehende Hunger“, erläutert die Missionarin im Gespräch mit Radio Vatikan. „Sobald nämlich das Virus in einer Gemeinde ausbricht, finden sich die ärmsten Bevölkerungsschichten, die auf die tägliche Arbeit angewiesen sind, ohne Bezahlung wieder und können daher keine Nahrungsmittel kaufen. Der andere dramatische Effekt, den wir direkt miterlebt haben, ist die Verzweiflung vieler Familien, die mit ansehen mussten, wie ihre Angehörigen praktisch ohne jede ärztliche Hilfe gestorben sind.“
Denn in vielen Gebieten herrsche angesichts der maximalen Ausbreitung des Virus nicht nur ein absoluter Mangel an Ärzten, sondern auch an den Instrumenten, die das Überleben sichern könnten, berichtet die Missionarin: „Hier mangelt es nicht nur an intensiver Therapie, sondern schon an Sauerstoffflaschen, so dass Menschen aufgrund fehlender medizinischer Mindestausrüstung sterben.“
Insbesondere die älteren Ureinwohner sterben nun an dem neuartigen Virus – ein herber Schlag für ihre Gemeinschaften, denen somit ein immenses kulturelles Erbe entzogen wird. Denn es sind vor allem die älteren Generationen, die die Sprache, Tänze und Mythen eines Volkes bewahren. Besonders erschüttert zeigt sich die Missionarin in diesem Zusammenhang über Sabotageakte, die die Überlebenschance der Menschen wissentlich noch weiter verringern – kaum zu glauben, aber wahr.
Der Kirche, so berichtet Schwester Laura, sei es gelungen, dank einer Sammelaktion eine funktionierende Anlage zur Befüllung von Sauerstoffflaschen aufzukaufen, um diese dem örtlichen Krankenhaus zu spenden: „Die Anlage funktionierte im Krankenhaus, und die Tatsache hatte auch auf der politischen Ebene für sehr viel Aufsehen gesorgt, weil die Kirche in die Tat umgesetzt hatte, was die zivilen Institutionen hätten tun sollen. Nun, Unbekannte haben versucht, die Anlage zu sabotieren und damit außer Gefecht zu setzen, und das ist eigentlich unglaublich. Es scheint wirklich absurd: Etwas, das dazu da ist, das Leben aller zu retten, und jemand versucht, es auszuschalten. Warum?!“
Sie habe viel Leid mit eigenen Augen gesehen, darunter auch die besonders erschütternde Situation einer Frau, die wegen der mangelnden Sauerstoffversorgung auf elende Weise im Krankenhaus verstorben sei, erzählt die Missionarin spürbar bewegt. Das Gesundheitssystem im Amazonasgebiet sei schon immer „absolut prekär” gewesen, weil diese Region nie in den Genuss größerer Investitionen und Aufmerksamkeit seitens der politischen Verantwortlichen gekommen war:
„Daher sind insbesondere der Gesundheits- und der Bildungssektor strukturell sehr fragil. Hier müssen also jedes Jahr zyklisch andere Epidemien bekämpft werden: die Dengue-Epidemie und die Malaria-Epidemie. Die Coronavirus-Pandemie hat somit ein Gesundheitssystem getroffen, das bereits unter Stress stand. Die Gesundheitssysteme von Großstädten wie Manaus und Iquitos sind deshalb zusammengebrochen, sie waren absolut nicht in der Lage, die Situation zu bewältigen, dieser Todeswelle standzuhalten. Sie können sich also gut vorstellen, wie unzureichend die kleinen Kliniken sind, die im Inneren der Region verstreut liegen, wo es an Ärzten, Medikamenten und manchmal für einen Teil des Tages an Elektrizität mangelt.“
Unter diesen Bedingungen sei es praktisch unmöglich, mit einer solchen Pandemie fertig zu werden, gibt Schwester Laura zu bedenken. Die Bevölkerung brauche in diesem Zusammenhang grundlegende Hilfsleistungen, was Nahrung, medizinische Schutzausrüstung und Pflege betreffe. „Wir sind uns jedoch bewusst, dass es auch notwendig ist, Informationsmaterial in den Originalsprachen der indigenen Völker zu erstellen, um in den verschiedenen Sprachen zu erklären, was das Coronavirus ist, wie es sich verhält, wie man sich davor schützen kann und alles, was nützlich sein kann, um vollständige Informationen zu geben. Dies ist auch eine Form der Prävention. Indigene Völker greifen u.a. wegen des Mangels an medizinischer Hilfe oft auf ihre traditionelle Medizin zurück. Wir wissen von Menschen, die sich mit Kräutern, Wurzeln, Aufgüssen, Kräutertees gegen das Coronavirus wehren. Wenn sie keine Hilfe erhalten, um sich zu schützen, brauchen sie nur auf ihr traditionelles Wissen zurückzugreifen.“
Es stehe mehr als nur der Verdacht im Raum, dass die Indigenen in dieser Situation wissentlich und aktiv auf sich selbst zurückgeworfen würden, selbst wenn kaum jemand das offen aussprechen würde, bestätigt uns die Missionarin. Insbesondere in Brasilien liege der Pakt der Mächtigen zulasten der Indigenen und ihrer Gebiete, die von Konzernen und diese hofierenden Politikern vor allem als rücksichtslos auszubeutende Zonen gesehen würden, offen zutage...
„Die indigenen Völker sind die wichtigsten und letzten Verteidiger des Ökosystems des Amazonaswaldes, das für den ganzen Planeten so wichtig ist. Sie sind eine Bremse für diese Art von ,ökozider' und räuberischer Entwicklung, eine Entwicklung, die nur wenigen zugute kommt. Das Coronavirus ist also gewissermaßen der große Verbündete, der ideale Verbündete für dieses Ziel. Die Pandemie macht die Drecksarbeit, sie erlaubt die Ausrottung der indigenen Völker, ohne sich die Hände mit Blut zu beflecken. Man kann den Wald nicht zerstören, ohne die Menschen zu vernichten, die in ihm leben.“
Sie selbst halte es kaum für einen Zufall, dass in dieser Zeit der Pandemie die illegalen Invasionen in indigene Gebiete, die sich in illegalem Bergbau, der Abholzung des Waldes und anderen illegalen Aktivitäten zeigt, so stark zugenommen habe, betont die Missionarin, die schon lange in direktem Kontakt mit den indigenen Gemeinschaften vor Ort steht. Die Aufgaben der Kirche vervielfältigten sich in einer solchen Situation der Pandemie, zeigt sich Schwester Laura überzeugt:
„Zunächst einmal als Vermittler humanitärer Hilfe: eine Kirche, die fähig ist, sich anzunähern, eine Samariterkirche. Ich sehe es hier in diesem peruanischen Vikariat von San José Del Amazonas, das sehr arm an personellen und materiellen Ressourcen ist. Ein riesiges Territorium, so groß wie die Hälfte Italiens, bevölkert von 150.000 Menschen, wo es keine großen Städte, sondern nur unendlich viele kleine Gemeinden entlang der Flüsse gibt. Nun, dieses Vikariat war in der Lage, sich mit anderen Organisationen, anderen Vereinigungen zusammenzuschließen, um die Hilfe gemeinsam zu kanalisieren und kleinteilig zu all diesen Gemeinschaften zu gelangen. Der Kampf gegen das Coronavirus ist ein Kampf gegen die Zeit, und hier habe ich miterlebt, wie die Kirche oft schneller war als zivile Institutionen und an deren Stelle getreten ist. Das ist nicht immer eine gute Sache, aber diese Aktion hat die Institutionen zumindest gezwungen, sich ihrer eigenen Schuld, ihrer eigenen Verantwortung zu stellen.“
Auf der anderen Seite mache sich die Kirche auch weiterhin zur Stimme derer, deren Stimme ansonsten nicht gehört werde, betont die Missionarin: „Wir dürfen die Worte von Papst Franziskus beim Mittagsgebet von Pfingsten nicht vergessen, als er indirekt diejenigen verurteilte, die die Wirtschaft über die Gesundheit der Menschen stellen. Deshalb muss unsere Rolle als Kirche immer die einer prophetischen Stimme sein, die in der Lage ist, diejenigen anzuklagen, die aus Interesse den Bedürfnissen der Menschen, ihrem Schmerz nicht gerecht werden.“
(vatican news)
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