USA/D: Wie christlich war Christos Kunst?
DOMRADIO.DE: Sie haben Ihre kunsthistorische Doktorarbeit über die Verhüllung des Reichstages geschrieben und haben Christo persönlich kennengelernt: Vielleicht denken die meisten Menschen in Deutschland bei Christo tatsächlich zuallererst an die Reichstags-Verhüllung. Woran denken Sie?
Dominik Meiering (Kölner Domkapitular): Na ja, das war wirklich der große Knaller 1995. Ich erinnere mich daran: Wir hatten gerade die deutsche Einheit und es gab die Frage: „Wohin geht jetzt die Hauptstadt?“ Und in dieser Zeit, bevor dann die Hauptstadt von Bonn nach Berlin umzog, hat er diese performative, transformatorische, diese alles verändernde Kunstaktion, durchgeführt. Der Reichstag war ja danach nicht mehr derselbe.
Das ist für mich in der Tat der Ausgangspunkt gewesen für die Beschäftigung mit Christo. Ich bin damals als Student mit ein paar Leuten dorthin, in einer Nacht- und Nebelaktion. Abends haben wir uns einfach ins Auto gesetzt, sind rüber gefahren, haben es uns angeschaut und waren mittags am nächsten Tag schon wieder zurück, weil wir Seminare hatten.
DOMRADIO.DE: Sie waren damals Theologiestudent in Bonn, richtig?
Meiering: Genau und mich hatte das damals schon aus theologischer Perspektive interessiert, weil ich gedacht habe, es geht um Verhüllungen. Und davon haben wir natürlich in der Kirche auch jede Menge.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie ein ganzes Buch geschrieben über Christo: „Verhüllen und Offenbaren“, so heißt das Buch. Dieses Verhüllen war ja Christos Spezialität. Was wollte er damit bezwecken?
Meiering: Manch einer sagt, er war ein Verpackungskünstler. Aber das ist ganz falsch, denn verhüllen ist etwas anderes. Wir haben auch im Christlichen den Begriff „Offenbarung“, also „zeigen“, und „revelatio“, also „Wegnehmen eines Schleiers oder eines Vorhanges“. Es geht immer darum, das zu zeigen, was dahinter liegt. Also alle Objekte, die er verhüllt hat, haben eine Geschichte. Sie haben eine Bedeutung. Und diese Geschichte in den Mittelpunkt und ins Blickfeld zu rücken, darum geht es bei all seinen Aktionen.
DOMRADIO.DE: War das denn ein frommer Mensch?
Meiering: Nein, das kann man so nicht sagen. Ich habe ihn mal gefragt, als ich ihn in seiner Wohnung in Soho in New York besucht habe, ob er denn christlich oder gläubig sei. Und seine Antwort war: „Na ja, ich könnte diese Sachen ohne die christliche Ikonografie und die Geschichte des Christentums nicht machen.“
Nun muss man wissen: Er ist Bulgare. Er stammt aus einer orthodoxen Tradition. Da ist das Verhüllen noch viel mehr verbreitet als bei uns im Katholischen. Da gibt es die Ikonostase mit den Vorhängen, da gibt es viele Riten während der Messe, in denen immer wieder der Kelch verhüllt und enthüllt wird. Es geht immer um das Dahinterliegende, das nicht Sichtbare. Und das ist für ihn eigentlich das Thema: Kunst macht Unsichtbares sichtbar.
Liturgisch anmutende Inszenierung und Begrifflichkeit
DOMRADIO.DE: Die Verhüllung des Reichstages: Sie wurde ein bisschen wie eine Liturgie inszeniert und die Presse hat auch viele Begriffe aus der christlichen Sprache übernommen. Die Menschen „pilgerten“ zum Beispiel nach Berlin, um das Spektakel zu sehen. Was gab es noch für Reaktionen, die sich aus dem christlichen Kontext bedient haben?
Meiering: Ja, das war irre. Zum Beispiel gab es eine Zeitungsüberschrift, da stand, als Christo auf dem Balkon des Roten Rathauses erschienen war: „Christo ist erschienen, uns zu versöhnen.“ Das war ein wichtiger Akt, denn dieser Reichstag, der lag an der Mauer, in der Todeszone und feierte plötzlich durch diese Aktion eine Auferstehung.
Und entsprechend war die Begrifflichkeit. Man konnte ja auch kleine Stofffetzen von dort mitnehmen, wie Reliquien. Und das Ganze war – so hat es eine Zeitung geschrieben – eine Transsubstantiation. Das ist normalerweise ein Begriff, den wir für die Wandlung des Brotes in den Leib Christi benutzen.
Der wurde jetzt benutzt, um deutlich zu machen: Vorher war der Reichstag negativ besetzt; vor allen Dingen aus der Kaiserzeit und der NS-Zeit. Auch mit dem Bundestag im Reichstag; da konnte keiner den Begriff „Reichstag“ verwenden. Nach dem verhüllten Reichstag war das aber ein neues Gebäude. Es ist in dem Bewusstsein und in der Wahrnehmung des Menschen nicht mehr ein belastetes Objekt gewesen, sondern plötzlich ein auch positiv aufgeladenes Objekt, von Modernität, Freiheitsgedanken und Kunst getragen.
DOMRADIO.DE: Wie kam das eigentlich, dass Sie den Cristo persönlich kannten und auch bei der Trauerfeier seiner Frau später dabei waren?
Meiering: Als ich das Buch geschrieben hatte, bin ich dann mal zu ihm nach New York, und der hat mich ganz freundlich dort empfangen. Wir haben ein bisschen Zeit gehabt, um miteinander zu reden, und dann später noch ein paar Mal korrespondiert. Und dann? Naja, dann wächst so eine Verbundenheit. Ich meine, so ein Mann hat mit ich weiß nicht wie vielen tausenden Menschen Kontakt. Er hat uns auch immer angeschrieben, um seine Projekte irgendwie nach vorne zu treiben – immer dann, wenn es schwierig wurde, dass er eine Genehmigung bekam oder dass eine Finanzierung auf die Beine gestellt wurde. Dann kam immer irgendwie ein kleiner Brief nach dem Motto „Helft doch mal, schreibt doch mal dahin und guckt doch mal, dass wir das Projekt vielleicht doch realisiert bekommen.“
DOMRADIO.DE: Und „uns“ hieß dann in diesem Fall das Erzbistum Köln.
Meiering: Nein, nein, das waren alle möglichen Sammler und Verehrer, die genau verstanden, was er wollte: Natürlich will seine Kunst verstören, sie will irritieren, und gleichzeitig ist sie aber auch wunderschön. Das ist das Spannende an der Sache. Und seine Kunst ist natürlich immer nur ganz kurz. Auch der verhüllte Reichstag, das dauerte nur zwei Wochen. Aber trotzdem bleibt diese Kunst für ewig.
Auch heute, wenn man durch den Reichstag geführt wird, dann kommen die großen Augenblicke aus der Kaiserzeit, aus der Nazizeit, wo der brennende Reichstag gezeigt wird, die rote Flagge der Siegermächte, der Russen auf dem Reichstag und dann aber eben auch der verhüllte Reichstag als Zeichen eines neuen freiheitlichen Denkens.
Und auf dieser Linie ist Christo immer unterwegs gewesen und hat sich immer versucht, dafür einzusetzen, dass die Kunst nicht nur sichtbar ist, sondern dass dahinter immer auch etwas Irritierendes, Verstörendes, Herausforderndes, Demokratisches, Kunstautonomes ist. Und da gab es viele, die ihn dafür verehrt haben.
DOMRADIO.DE: Es waren ja berühmte Gebäude, die Christo gerne verhüllt hat. Der Kölner Dom ist auch so ein berühmtes Gebäude. Gabs da Anfragen?
Meiering: Ja, es gab 1980 hier zum großen Dom-Jubiläum einen Wettbewerb, eine Kunst-Ausschreibung: „Mein Kölner Dom“. Da haben sich viele Künstler beteiligt, Christo auch. Und er hat eine Collage gemacht, in der der Kölner Dom in der Tat in Stoff eingehüllt ist. Er hat das später, 1992, noch einmal neu aufgelegt. Ich bin ganz stolz darauf, dass ich davon ein Exemplar besitze.
Es ist natürlich niemals die Idee gewesen, dass das realisiert wird. Aber er hat damit gezeigt: Ja, der Dom ist eine Hülle. Wofür? Natürlich für den Dreikönigenschrein, wofür ist der eine Hülle? Für die Gebeine. Wofür sind die Gebeine eine Hülle? Natürlich für die Begegnung mit Gott. Das heißt, man arbeitet sich wie durch eine Zwiebel durch die Hüllen hindurch, um dann schließlich irgendwann bei etwas Essentiellem anzukommen. Und genau dafür öffnet er den Blick, also er hat genau verstanden: Der Kölner Dom, das ist eine Hülle für etwas.
DOMRADIO.DE: Kam durch seine Arbeit auch etwas Religiöses quasi durch die Hintertür der Kunst in die Öffentlichkeit?
Meiering: Was ist Kunst? Was ist Religiöses, was ist kirchlich? Ich finde das nicht so einfach zu beantworten. Mein Eindruck ist: Sobald es existenziell wird, sobald es an die Fragen des Menschseins geht, also: „Woher komme ich, wohin gehe ich, wie will ich leben und mit wem?“ Dann sind wir immer auf einer gesellschaftlich relevanten Ebene und immer auf einer religiös relevanten Ebene, weil das aus meiner Perspektive nicht ohne Gott geht.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.
(domradio.de - cs)
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