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Proteste in Bogotá Proteste in Bogotá 

Unruhen in Kolumbien: Politische Versäumnisse rächen sich

Die Folgen der Corona-Krise, eine spalterische Politik und der stockende Friedensprozess in Kolumbien: „Vielfältig“ sind die Hintergründe der jüngsten Unruhen in der Hauptstadt Bogotá, sagt die Kolumbien-Referentin des Hilfswerkes Adveniat im Interview mit Radio Vatikan. Dass Kolumbiens Regierung Forderungen des Friedensabkommens von 2016 im Bereich der sozialen Gerechtigkeit nicht nachkommt, „rächt sich jetzt bitterlich“, urteilt Monika Lauer Perez. Denn die Konflikte des Landes seien nachhaltig nur an der Wurzel zu lösen.

Anne Preckel - Vatikanstadt

Ausgerechnet in der „Woche für den Frieden“, die Kolumbien in der vergangenen Woche beging, kam es zu kruder Gewalt. Soziale Proteste arteten in Zerstörung aus, bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kamen über ein Dutzend Menschen ums Leben, hunderte wurden verletzt, darunter auch Ordnungskräfte.

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Dramatische Folgen des Lockdown

Zur Unzufriedenheit und Wut der Menschen trage derzeit akut die Corona-Krise bei, so Lauer Perez. Der Gesundheitsnotstand und der damit verbundene „harte Lockdown“ in Kolumbien habe viele Menschen in Armut gestürzt und das Land insgesamt zurückgeworfen.

„Dieser Lockdown ist für die Menschen, die in prekären Bedingungen leben, ja fast eine Vernichtung ihrer Existenz. Wenn sie etwa ihren Lebensunterhalt damit verdient haben, Essen auf der Straße zu verkaufen, und nicht raus konnten, war es ihnen nicht möglich, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es ist wirklich dramatisch gewesen, das muss man sagen.“

Auf den Straßen hätten sich deshalb vor allem arme Menschen und junge Leute Gehör verschafft, die angesichts der verschärften Lage keine Perspektiven mehr für sich sähen. Und während die Regierung versuchte, der Gesundheitskrise durch Maßnahmen wie dem strikten Lockdown „einigermaßen“ beizukommen, habe sie sich wenig darum gekümmert, die anderen, existenziellen Nöte der Menschen zu lindern, beobachtet Lauer Perez:

„Die Lösung für die Menschen, also die Frage, wie deren Überleben und Einkommen gesichert werden kann – da, fürchte ich, hat die Regierung zur Zeit keine Antwort. Und ich glaube, dass das auch ein Grund ist, der die Bevölkerung sehr aufbringt. Denn die Menschen fühlen sich verloren, ohne Führung auch in diesem Moment.“

 Bei der Beisetzung des im Polizeigewahrsam verstorbenen Javier Ordonez am Mittwoch
Bei der Beisetzung des im Polizeigewahrsam verstorbenen Javier Ordonez am Mittwoch

Debatte um Polizeigewalt

Die jüngsten Krawalle wurden unter anderem durch ein Video ausgelöst, in dem Polizisten einen wehrlosen Mann quälen, der später an den Folgen verstarb. Im Kontext eines Gedenktages für Opfer der Polizeigewalt waren am Wochenende erneut Forderungen nach einer nachhaltigen Polizeireform in Kolumbien laut geworden. Polizeigewalt gegen Demonstranten treibt in Kolumbien schon länger Menschen auf die Straßen. Im November vergangenen Jahres hatte es einen Studenten getroffen, der sich an den damaligen Protesten für Sozialreformen und die Umsetzung der Friedensverträge beteiligt hatte.

Solche Reformen werden von der amtierenden Regierung nicht anvisiert. Der rechtskonservative Präsident Iván Duque, der eine „Politik der harten Hand“ propagiert, hatte Gespräche mit der ELN nach einem Attentat der Rebellen ausgesetzt und steht dem unter seinem Vorgänger Juan Manuel Santos eingeleiteten Friedensprozess skeptisch gegenüber. Damit hat er ein ganzes Paket von Maßnahmen blockiert, die in dem zerrütteten Land nach langen Jahren des bewaffneten Konfliktes mehr soziale Gerechtigkeit, Versöhnung und Aufarbeitung garantieren sollten.

Präsident Duque 2018 bei einer Papstaudienz
Präsident Duque 2018 bei einer Papstaudienz

Versäumnisse der Politik  

Adveniat-Referentin Lauer Perez sieht die aktuellen Sozialproteste auch durch eben solche „Versäumnisse“ der Politik gespeist. Die Corona-Krise hat in dem Land bestehende soziale Probleme wie Armut und gesellschaftliche Gräben vergrößert. Eine rechtzeitige Investition in soziale Gerechtigkeit, nationalen Dialog und Versöhnung hätte hier einiges abfangen können. 

„Wären die Punkte in dem Friedensabkommen umgesetzt worden, so wie es gedacht war, dann wäre wahrscheinlich die Lage heute nicht so ganz aussichtslos. Da hätte man an diesem Thema schon gut vier Jahre arbeiten können, aber in dieser Hinsicht ist einfach gar nichts passiert. Und das ist auch der größte Vorwurf an die aktuelle Regierung Duque, dass sie eben das Friedensabkommen hat ausbluten lassen, dem Abkommen keinerlei Unterstützung gegeben hat, und das rächt sich jetzt bitterlich.“

Allerdings habe es bei den aktuellen Demos Elemente gegeben, die gezielt Gewalt angeheizt hätten, ergänzt sie - „nicht die Armen oder Jugendliche, sondern Gruppen, die das mit einer politischen Motivation machen", so Lauer Perez.

Gewalt, Gewalt, Gewalt

Gewalt sei derzeit aber nicht nur auf Bogotás Straßen ein Problem, sondern im ganzen Land: Nahezu überall trieben Rebellen, paramilitärische Gruppen und die Drogenmafia ihr Unwesen, berichtet die Adveniat-Referentin.

„Es gibt in Kolumbien so viel Gewalt, dass man im Moment – und jetzt komme ich wieder auf die führungslose Situation zu sprechen – gar nicht sieht, wie man da um Himmels willen herauskommen kann...“

ELN übernimmt von der FARC geräumte Gebiete

Man habe es in Kolumbien mit „vielen bewaffneten Akteuren“ zu tun. Die Politik bekomme das Problem nicht in den Griff und habe es versäumt, der immer stärker ausufernden Gewalt rechtzeitig einen Riegel vorzuschieben. So habe die nach der FARC zweite Rebellengruppe im Land, die ELN, die ehemaligen Gebiete der FARC besetzt, die diese nach dem Friedensabkommen freigegeben hatte. Dazu Lauer Perez:

„Die Regierung hätte in diesem Moment die Möglichkeit nutzen müssen, institutionelle Präsenz in diesen Gebieten aufzubauen, das hat sie aber nicht gemacht. Das ist wie ein Machtvakuum gewesen in diesem Moment, was die ELN und auch mexikanische Drogenkartelle und paramilitärische Gruppen nutzen möchten, um sich selbst die besten Schmuggelrouten für das Kokain zu sichern und illegale Bergbauaktivitäten zu betreiben.“

 Indigene stürzen am Mittwoch in Popayan die Reiterstatue eines spanischen Eroberers
Indigene stürzen am Mittwoch in Popayan die Reiterstatue eines spanischen Eroberers

Massives Leid der Zivilbevölkerung

Die Zivilbevölkerung leide massiv unter diesem Machtkampf, so Lauer Perez. So sagten die Menschen inzwischen, „heute ist es viel gefährlicher als damals. Denn früher wussten wir, wer der Feind war oder wer das Sagen hatte. Im Moment wissen wir gar nichts“, fasst die Adveniat-Referentin Stimmen aus der Bevölkerung zusammen.

„Es gibt Bischöfe in der Pazifikregion von Kolumbien, die erzählen mir: Unsere Leute verhungern! Die verhungern, weil wieder Landminen ausgelegt werden, weil die Leute von bewaffneten Gruppierungen in ihren Dörfern festgehalten werden und nicht auf ihre Felder gehen können, um das bisschen zu ernten, was sie da anbauen. Es ist wirklich so dramatisch, das kann man sich kaum vorstellen.“

Kolumbiens Kirche spricht sich angesichts dieser „düsteren“ Lage für mehr Friedenswillen und Versöhnung aus. Calis Erzbischof Dario de Jesus Monsalve fordert die Politik zum Umdenken auf. Die Kolumbianer litten an einer Abwesenheit des Staates; die Gesellschaft sei zerrissen, kommentiert er die Polarisierungen, die sich unter anderem in der jüngste Gewaltwelle in Bogotá entluden: „Wir gehen dem Abgrund entgegen“, warnt der Geistliche, der in Kolumbien viel Rückhalt in den sozialen Bewegungen hat. „Die Macht kann keine Ordnung garantieren, wenn sie Macht missbraucht.“

(vatican news/adveniat – pr)
 

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17. September 2020, 16:06