Die Ansprache des irakischen Präsidenten vor dem Papst im Wortlaut
Im Namen Gottes, des Barmherzigen,
Im Namen aller Anwesenden, sehr geehrte Damen und Herren,
Im Namen aller Iraker in ihrer Vielfalt und ihren antiken Zugehörigkeiten.
Wir heißen Sie willkommen, Heiliger Vater, und freuen uns über Ihre Anwesenheit hier bei uns im Irak, im Land Mesopotamien, im Land der Propheten und der großen Religionen. Willkommen in Bagdad, dem Ort des Friedens. Auch die anderen irakischen Städte heißen Sie willkommen: Nadschaf, Mossul, Erbil und Karakosch.
Willkommen in Ur, der antiken Stadt, in der die Schrift erfunden wurde und die die Ehre hat, die Wiege des Propheten Abraham (Friede sei mit ihm) zu sein, dem Vater der Propheten; die Stadt, nach der sich die Herzen der Menschen aller himmlischen Religionen sehnen.
Heiliger Vater, Ihre wichtige Rolle bei der Forderung nach Frieden, sozialer Gerechtigkeit und der Bekämpfung der Armut sowie Ihre großzügigen Bemühungen um die Bejahung des Dialogs, des Zusammenlebens und der menschlichen Geschwisterlichkeit sind ein Grund zu Stolz und Wertschätzung und eine inspirierende Botschaft für alle, aufgrund der hohen Verantwortung, die sie im Hinblick auf das Leben und die Menschlichkeit mit sich bringt.
Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Einladung angenommen haben und diese Reise antreten wollten, deren historische, religiöse und menschliche Dimension wir zu schätzen wissen und die ein Beweis für Ihre Sorge um den Irak ist.
Bei unseren früheren Treffen im Vatikan konnte ich mich davon überzeugen, wie groß Ihre Sorge um dieses Land ist, und ich habe gesehen, dass Sie die Nachrichten verfolgen und wie sehr ihnen die Tragödie nahe geht, die die Iraker erlebt haben, das Leid, das sie aufgrund von Kriegen, Gewalt und Einmischung von außen ertragen mussten.
Ihre Anwesenheit, Heiliger Vater, erfüllt die Iraker mit Stolz: die Anwesenheit eines lieben Gastes, der trotz aller Empfehlungen, den Besuch wegen der Pandemie und der schwierigen Situation in unserem verwundeten Land zu verschieben, heute hier ist. Das alles macht diesen Besuch in den Augen der Iraker nur noch wertvoller.
Trotz der Gewalt, der Tyrannei und des Totalitarismus, die unser Land in den verschiedenen Phasen unserer Geschichte heimgesucht haben, sind die Iraker stolz darauf, seit vielen Jahrhunderten in Städten zu leben, in denen Muslime, Christen, Juden, Sabäer und Jesiden in den Stadtvierteln dicht beieinander leben, als wahre Geschwister. Kirchen stehen in unmittelbarer Nähe zu Moscheen und Gebetsstätten, und das Läuten der Glocken vermischt sich mit dem Ruf des Muezzin, der die Muslime zum Gebet ruft.
Und die Iraker sind auch stolz darauf, Beschützer der Kirchen zu sein. Nach dem Terroristen-Angriff auf die Kirche „Unserer Lieben Frau von der Erlösung“ standen die jungen Muslime Seite an Seite mit den jungen Christen, ihren Geschwistern. Es war, als wären sich die irakischen Muslim bewusst geworden, dass sie ihre patriotische und humanitäre Verantwortung dazu verpflichtet, die Kirche genauso zu verteidigen, wie sie seine Heimat und seine heiligen Stätten verteidigen würden.
In ähnlicher Weise hat sich auch eine Szene der Befreiung Mossuls - die Szene einer von ISIS-Terroristen zerstörten Kirche - für immer ins Gedächtnis eingebrannt. In dieser Szene, die die ganze Welt gesehen hat, tragen staubbedeckte muslimische Soldaten das Kreuz auf ihren Schultern, um es nach der Befreiung an seinen heiligen Platz in der Kirche zurückzubringen, während ihr Offizier respektvoll und ehrfürchtig vor der Statue der Jungfrau Maria und der Christi steht.
Es ist ein menschlicher und erzieherischer Wert, der der Überzeugung aller Iraker entspringt, dass das Band der Vielfalt und des friedlichen Zusammenlebens hochgehalten werden muss. Schließlich ist es ein Wert, der fest in ihrem Land verwurzelt ist – der Palme gleich, die seit Tausenden von Jahren in den Wurzeln ihrer Heimat verwurzelt ist.
Als die islamische Botschaft entstand, hieß das Christentum den Islam willkommen und schützte die nach Abessinien eingewanderten Muslime. Und der Negus, ein Christ, sagte zu Dschafar, einem Muslim: „Es ist nichts mehr als diese Linie zwischen eurer Religion und unserer". Und in den ersten Tagen des Islamischen Staates prägte Imam Ali folgenden Ausspruch voller Menschlichkeit: „Es gibt zwei Arten von Menschen: er ist entweder dein Bruder in der Religion oder Deinesgleichen in der Schöpfung.“
Dies ist unsere inspirierende Geschichte der friedlichen Koexistenz, der Liebe und der Geschwisterlichkeit unter den Menschen. Und das ist unsere Gegenwart, die diese erhabenen und edlen Werte hervorbringt.
Unsere Welt erlebt heute leider eine Zeit der Gegensätze und der Polarisierung, in der vielerorts, vor allem im Osten, die Akzeptanz des Pluralismus, der Vielfalt und der Meinung des anderen an Boden verliert, was dem Terrorismus den Weg ebnet und der Aufstachelung zu Gewalt, Hass und Gräueltaten Vorschub leistet: Und dies geschieht unter Vorwänden, die nichts mit dem toleranten Geist der göttlichen Botschaft zu tun haben; und das ist es, was unsere Zukunft bedroht.
Es ist daher unerlässlich, den Kampf gegen extremistische Ideologien fortzusetzen, die Wurzeln des Terrorismus auszurotten und die Werte des Zusammenlebens und der Vielfalt, an denen unsere Nationen so reich sind, zur Geltung zu bringen und sie in ein Element der Stärke und des Zusammenhalts zu verwandeln. Die Festigung dieser Werte ist in unserer heutigen Welt ein dringendes Erfordernis geworden, und sie ist das beste Geschenk, das wir der Zukunft unserer neuen Generationen machen können.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist unser Volk Opfer unnötiger Kriege und einer Unterdrückungspolitik, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat, und in deren Verlauf Hunderttausende von Irakern aller Zugehörigkeiten hingerichtet, ermordet oder verschleppt wurden. Dazu kommen noch die chemischen Waffen, die die Diktatur beim Giftgasangriff auf Halabdscha eingesetzt hat, die Vernichtungskampagne "Anfal", die Massengräber in den Städten des Südens und des Zentrums, die Trockenlegung von Sümpfen und die schreckliche Zerstörung der Umwelt.
In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir den größten Krieg gegen den Terrorismus erlebt: Städte wurden zerstört, ihre Wirtschaft vernichtet, ganze Familien vertrieben, Frauen versklavt, Kirchen zerstört, Lager niedergebrannt und wertvolle Denkmäler geplündert. Es hat schlimme Übergriffe gegen jesidische und turkmenische Frauen gegeben sowie blutige Massaker in Sinjar und Sapikar, wovon Muslime, Christen, Jesiden, Sabäer und andere Mitglieder unserer Gesellschaft gleichermaßen betroffen waren.
Es sind Tragödien, deren Opfer alle Menschen geworden sind, aber wir beziehen uns insbesondere auf das große Leid unserer christlichen Brüder und Schwestern, die gezwungen wurden, ihre Häuser und ihre Heimat zu verlassen; und dieses Leid haben Christen in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens erfahren.
Die vergangenen Jahre waren schwer für den Irak, und es liegen immer noch enorme Herausforderungen vor uns, um den Ansprüchen unserer Bürger gerecht zu werden: strukturelle Reformen des Regierungssystems in unserem Land, Fortschritte beim Aufbau und der Konsolidierung der sozialen Gerechtigkeit, Arbeitsplätze für unsere Jugend, Sicherheit und Freiheit und die Stärkung der Souveränität des Landes.
Um die tiefe Wunde zu heilen, die dem Irak zugefügt worden ist, bedarf es unserer aller Sorge und unseres Engagements, damit gewährleistet ist, dass der Irak zu einem Ort der Harmonie wird, zu einer Brücke für Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Region, und nicht zu einem Ort des Konflikts und der Rivalität – und dabei muss sichergestellt sein, dass er über uneingeschränkte und unabhängige Souveränität verfügt, Grundpfeiler eines regionalen Systems, das auf der Achtung der Menschenrechte und der wirtschaftlichen Integration beruht.
In unserer Region gibt es Länder, in denen Menschen ihr Leben verlieren und Gebäude zerstört werden – und es gibt andere, die Geld verlieren. Alle sind Verlierer in diesem Chaos ohne Ende. Die einzige Lösung liegt im Dialog und in der Zusammenarbeit im Namen der Sicherheit aller und die Rechte unserer Bürger.
Die Christen des Irak, die Christen des Orients, die Menschen dieses Landes haben sich Seite an Seite mit ihren Geschwistern aller Konfessionen den verschiedenen Herausforderungen gestellt. Ihr historischer Beitrag der Zivilisation und des Kampfes war bedeutend, und sie haben sich beim Aufbau unserer Gesellschaften zusammengeschlossen und den authentischen östlichen Bräuchen, Traditionen und Werten Leben eingehaucht.
Die Christen des Orients haben in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Krisen erlebt, die sie zur Auswanderung gezwungen haben. Zweifellos wird die anhaltende Abwanderung von Christen, zusammen mit anderen religiösen, ethnischen und nationalen Komponenten, aus den Ländern der Region verheerende Folgen für die Werte des Pluralismus und der Toleranz haben. Und das wird sich auch negativ auf die Fähigkeit der Völker dieser Region zum Zusammenleben auswirken. Ohne Christen ist der Orient nicht vorstellbar.
Ein Erfolg wird sich erst dann einstellen, wenn die Rückwanderung von Vertriebenen und Ausgewanderten aus den Asylländern ohne Zwang beginnt, und dies erfordert einen energischen Einsatz für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität der Sicherheit in der gesamten Region, um ein nationales Umfeld zu schaffen, das die eingewanderten und ausgewanderten Söhne und Töchter dieses Landes gleichermaßen anzieht: vor allem Christen und Jesiden.
Die Lebensbedingungen in Zeiten der Coronapandemie haben gezeigt, dass die Welt Frieden und Solidarität braucht, um Polarisierungen und Konflikte zu überwinden und das kollektive Potential im Interesse des Fortschritts im Dienste des Lebens und des Menschen zu vereinen.
Heute, wo Sie, Heiliger Vater, als lieber und willkommener Gast bei uns im Irak weilen, bietet sich uns eine historische Gelegenheit: eine Gelegenheit, die Werte der Liebe, des Friedens, der Koexistenz, der Aufnahme anderer und der Unterstützung der Vielfalt durch humanitäre Initiativen zu bekräftigen, die in der ganzen Welt die Zusammenarbeit beim Vorantreiben dieser Werte fördern.
Wir, Nachkommen des Propheten Abraham (Friede sei mit ihm), Anhänger der abrahamitischen Religionen, Iraker und andere, können nicht akzeptieren, dass Terrorismus und Extremismus im Namen der Religion praktiziert werden, und wir können auch keine Ungerechtigkeit akzeptieren, denn der Irak verdient das Beste und eine vielversprechende Zukunft für alle seine Kinder.
Die Iraker haben mehr verdient als die Situation, in der sie derzeit leben, in einem Land, das mit Ressourcen und einer privilegierten Position gesegnet ist, die es ihm erlaubt, ein Gebiet der Sicherheit, der Stabilität und des Friedens zu sein.
Anlässlich dieses gesegneten Besuchs hoffe ich, dass die Initiative zur Gründung des Hauses Abraham für den religiösen Dialog weitergeführt wird und dass eine ständige Konferenz oder ein Symposium für den Dialog eingerichtet wird, unter der Aufsicht von Delegierten aus dem Vatikan, Nadschaf, Al-Azhar, Zaytuna und den wichtigsten religiösen Zentren, die die gemeinsame und vielfältige Geschichte im Licht der heiligen Gegenstände und des Keilschrift-Erbes erforschen.
Heiliger Vater,
wir heilen unsere Wunden, und Sie sind nun hier, um sie mit uns zu heilen.
Danke für Ihren großzügigen historischen Besuch und für alles, was Sie für das Wohl der Menschen auf der Erde tun.
Ich habe nun Ehre, Sie einzuladen, zu dieser ehrenwerten Versammlung zu sprechen, und von hier aus zu allen Irakern.
(vatican news)
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