Jerusalem: „Konflikt ist komplexer als dargestellt“
Beide Seiten, Israelis wie auch Palästinenser, stellten Gebietsansprüche und wollten „ganz Jerusalem“ für sich, so der aus dem Burgenland stammende Priester in Stellungnahmen gegenüber der Nachrichtenagentur Kathpress sowie für die „Kronenzeitung“. Dabei sei der Konflikt weit komplexer als in sozialen Netzwerken dargestellt: „Die Geschichte beginnt weder mit 1967 noch mit 1948, sondern lange davor. Wenn alles so simpel wäre, wie es der Twitteria scheint, würde man sich wohl kaum seit 100 Jahren wechselseitig das Leben schwer machen.“
Eskalation absehbar
Auch die aktuelle Eskalation sei nicht erst durch die Anhörung am sogenannten Jerusalem-Tag zu erklären. Auf beiden Seiten des Konflikts steckten „Kalkül und Interesse“ dahinter, besonders hinsichtlich der im Zentrum stehenden Eigentumsverhältnisse des von Siedlungspolitik bestimmten Stadtteils Scheich Jarrah im arabischen Osten Jerusalems, um den schon seit mindestens 30 Jahren gestritten wird, nachdem hier nach legalem Landerwerb durch die Osmanen bzw. Palästinenser stets „Vertreibung auf Krieg und Krieg auf Vertreibung“ gefolgt sei.
Die Stimmung habe sich schon in den Wochen zuvor hochgeschaukelt: Anfangs habe es sich um Begleiterscheinungen arabischer Demonstrationen wegen der Absage der von der Fatah-Regierung für 22. Mai ausgerufenen Wahlen in den Palästinensergebieten gehandelt. Dass die Wahl auch tatsächlich stattfinden werde, habe dennoch vor Ort schon zu Jahresbeginn niemand geglaubt: Die letzte Wahl datiere bereits auf das Jahr 2006 zurück, seither habe es ständig Absagen gegeben „mit dem üblichen Argument, Palästinenser in Jerusalem dürften nicht wählen“. Offenbar fürchte die Fatah-Regierung, bei Wahlen abgemahnt zu werden zugunsten einer Stärkung der Hamas, die aufgrund ihrer sozialen Agenden beliebt sei, so die Einschätzung des österreichischen Priesters.
„Man bleibt einander nichts schuldig“
Israel behandle seine Bevölkerung bevorzugt, sei dabei aber „gewiss nicht das einzige Land“, könne man damit doch auch in Europa „Wahlen gewinnen und Gesetze verabschieden“, so der seit 17 Jahren in Jerusalem tätige Hospiz-Rektor, und weiter: „Warum auch sollte Israel, das ‚ganz Jerusalem‘ für sich beansprucht, einen Teil der Bevölkerung zur Wahl der Volksvertretung in Ramallah zulassen? Wenn man umgekehrt bedenkt, wie viele Menschen das betrifft in Relation zu jenen, die man deshalb in der Westbank nicht darüber abstimmen lässt, wer sie eigentlich regieren soll, liegt die Frage nahe, wer hier wen in Geiselhaft genommen hat.“ Dieselbe Denkweise gebe es auch auf der anderen Seite: Auch arabische Demonstranten hätten am Damaskustor „Ganz Jerusalem ist unser. Ganz Jerusalem ist arabisch“ skandiert.
Insgesamt gelte: „Man bleibt einander nichts schuldig. Es geht immer um das Ganze. Vor allem, wenn es um das Heilige geht“, so der Hospiz-Rektor. Sowohl Israel als auch die Palästinenser verteidigten sich, wobei die Narrative der Konfliktparteien „in ihrer eigenen Wahrnehmung und Darstellung jeweils stimmig“ seien. Das Ergebnis sei eine „vielfältige menschliche Tragödie“, für die er selbst mit „Freunden auf beiden Seiten“ nach Jahrzehnten täglich immer weniger eine Lösung wisse, erklärte Bugnyar. Um nicht zusätzliches Öl ins Feuer zu gießen, müsse man „zuhören, mitdenken, mitfühlen; vor allem aber: Alles hinterfragen. Cui bono? Wer erzählt was wem mit welcher Absicht?“
[ Photo Embed: Bei einer Hisbollah-Demonstration im Süden des Libanon]
Pilgerhaus zwischen den Fronten
In der Jerusalemer Altstadt würden die beiden am Konflikt beteiligten Welten aufeinanderprallen, was erst recht in dem hier liegenden Österreichischen Pilgerhospiz an der Via Dolorosa gelte: Die Mitarbeiter seien arabisch, darunter Christen wie Muslime, die Besucher im hauseigenen Cafe Triest jüdisch, die Gäste im Gästehaus hingegen aus aller Welt, vor allem Deutsche, Österreicher, Franzosen und Amerikaner, berichtete Bugnyar. „Was für uns so schön begonnen hat mit den Öffnungen und den ersten wenigen Gästen im Café, ist nun wieder dahin. Für unbestimmte Zeit.“
Nun sitze man im Hospiz zwischen den Fronten und bekomme die Angriffe der Hamas direkt mit. Dass diese ihr an Israel gestelltes Ultimatum vom Wochenende ernst nehmen würde, habe zuvor vor Ort niemand geglaubt, da man an deren „brachiale Rhetorik im Gazastreifen“ schon gewohnt sei. „Doch jetzt ist es passiert“, so Bugnyar. Im jüdischen Westen hätten die Menschen nach dem Sirenenalarm rund 90 Sekunden Zeit für den Weg in einen Schutzraum. Zwar sei davon auszugehen, dass niemand die Altstadt beschießen werde, da dann auch eine heilige Stätte getroffen werden könnte. „Doch wer weiß, vielleicht gibt es auch Querschläger und Missgeschicke“, gab der Hospiz-Rektor zu bedenken.
(kap – sk)
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