Äthiopien: „Schwere Verbrechen in Tigray“
Ein „Amnesty“-Bericht trägt Hinweise auf außergerichtliche Tötungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Versklavung zusammen. Verantwortlich dafür seien häufig Soldaten aus dem angrenzenden Eritrea sowie Sicherheitskräfte und Milizen aus der äthiopischen Region Amhara.
Die Tigray-Krise begann im vergangenen November, als der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed das Militär in die Region schickte, um die örtliche Regierung abzusetzen. Der daraufhin ausbrechende Konflikt findet weitgehend abseits der internationalen Aufmerksamkeit statt, weil die Region von außen fast gänzlich abgeriegelt ist.
„Der neue Bericht bestätigt, dass auch im Tigray-Konflikt Vergewaltigung als Kriegswaffe eingesetzt worden ist.“ Das sagt „Amnesty“-Sprecher Riccardo Noury im Interview mit Radio Vatikan. „Wir haben hier eine Menge an klaren Beweisen, die das Ausmaß und die Breite dieses Phänomens belegen. Echte Kriegsverbrechen, bei denen Hunderte von Frauen und Mädchen, auch schwangere, vergewaltigt wurden. Alles offensichtlich, um eine ethnische Gruppe zu verfolgen und um Frauen und Mädchen zu erniedrigen, um sie ihrer Menschlichkeit zu berauben.“
Das Drama von Tigray verschont auch Kinder nicht. Das UNO-Kinderhilfswerk Unicef berichtet, dass vor ein paar Tagen in der Region Afar bei Angriffen von Bewaffneten auf Flüchtlinge über 200 Menschen getötet worden sind; mehr als hundert davon seien Kinder gewesen. Nicht nur in Afar, auch in anderen Regionen, die nahe an Tigray liegen, komme es zu immer heftigeren Kämpfen. Deswegen seien mittlerweile vier Millionen Menschen in Tigray, Afar und Amhara von Hunger bedroht; mehr als zwei Millionen Menschen seien auf der Flucht.
Ein erschütterndes Bild
„Es handelt sich um einen ungeregelten Konflikt, mit dem sich eines Tages die internationale Justiz befassen muss, da die äthiopische Justiz nicht über die Mindestvoraussetzungen dafür verfügt. Die von ‚Amnesty International‘ befragten Personen – die meisten von ihnen aus der Ferne über sichere Kanäle, aber etwa fünfzehn direkt in den Flüchtlingslagern im Sudan – haben uns ein erschütterndes Bild von Zivilisten ohne Schutz und von ethnisch motivierten Schikanen vermittelt. Die Daten und Fakten beziehen sich auf den Zeitraum zwischen März und Juni 2021, sie sind also sehr aktuell.“
Viele Menschenrechtler befürchten eine humanitäre Katastrophe im Norden von Äthiopien. Abiy Ahmed hatte im vergangenen Herbst einen schnellen Sieg der äthiopischen Armee in Tigray prophezeit; doch es ist anders gekommen. Die Tigray-Miliz hat im Juni die regionale Hauptstadt Mekele zurückerobert, der Konflikt droht sich auszuweiten. Jetzt rief der Ministerpräsident in Addis Abeba alle äthiopischen Bürger dazu auf, zu den Waffen zu greifen und die Armee in ihrem Kampf zu unterstützen. Dass ihm der Westen in den Arm fällt, braucht Abiy Ahmed nicht zu befürchten.
„Die neuen Kämpfe in Afghanistan lenken die internationale Gemeinschaft vom Geschehen in Äthiopien ab. Wieder einmal versucht sie nicht – auch nicht die EU –, Lösungen zu finden, sondern ist nur besorgt darüber, wie viele Flüchtlinge der Konflikt produzieren wird. Dies scheint das Kriterium zu sein, nach dem die Prioritäten gesetzt werden, und im Fall von Äthiopien kommt noch hinzu, dass die Tigray-Region praktisch unzugänglich ist. Keiner – auch keine Helfer – kann von außen nach Tigray gelangen und sich ein direktes Bild von den Geschehnissen machen. Auch den Medien wird die Möglichkeit genommen, Informationen zu bekommen und zu verifizieren. Damit sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass der Konflikt weiter in Vergessenheit gerät.“
Bricht Äthiopien auseinander?
Riccardo Noury befürchtet, dass Äthiopien auf die Dauer auseinanderbrechen könnte. Dabei sei es „faszinierend“ gewesen, wie Abiy Ahmed noch vor Jahr und Tag von einem ethnischen Föderalismus gesprochen habe. Für diese Vision wurde der Premier sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch das Projekt sei gescheitert, befindet der „Amnesty“-Sprecher, „und vielleicht ist auch die Sicht der internationalen Gemeinschaft auf dieses Projekt gescheitert“.
Was kann denn getan werden, um die Krise wieder in den Bereich der Diplomatie zu bringen? „Es ist klar, dass die Konfliktparteien allein das nicht schaffen können“, so Noury. „Zumindest ist das die Einschätzung, die wir in den letzten Monaten gewonnen haben. Eine der ersten Bedingungen besteht darin, supranationale Gremien in den Kreislauf einzubeziehen, etwa die Afrikanische Menschenrechtskommission. Nach Ansicht der UNO-Experten für sexuelle Gewalt kann Frieden allerdings nicht durch Straffreiheit erreicht werden. Vielmehr müssen sich alle Parteien bereiterklären, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und vielleicht sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden!“
(vatican news – sk)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.