Litauen/Belarus: Ein Kardinal an der Grenze
Mehrere tausend Migranten halten sich unter prekären Bedingungen in improvisierten Camps in der Nähe der Grenze auf. Die Behörden bearbeiten ihre Asylanträge; etwa tausend Menschen wurden wieder nach Belarus zurückgewiesen. Das Parlament hat den Bau eines Grenzzauns beschlossen, doch es wird dauern, bis der fertig ist.
Derweil hat der emeritierte Erzbischof von Vilnius, Kardinal Audrys Juozas Bačkis, mehrere Orte in der Nähe der Grenze besucht, an denen Migranten jetzt behelfsmäßig untergebracht sind. Dem Kirchenmann geht es nicht um eine politische Debatte über Aufnahmequoten oder Grenzzäune, sondern darum, an die christliche Tugend der Aufnahme von Fremden zu erinnern.
„Ich habe mehrere Orte besucht“, so Bačkis im Interview mit Radio Vatikan. „Ich war in Pabrade, wo Flüchtlinge schon seit einiger Zeit betreut werden und wo sich derzeit etwa fünfhundert Menschen aufhalten. Ich habe dort eine Gruppe von Menschen getroffen – die meisten von ihnen aus dem Irak, aber auch einige aus Afrika. Ich habe mit ihnen gesprochen; all diese Menschen warten nun und hoffen auf Asyl. Sie wollen nicht in ihre Länder zurückkehren. Im Lager werden sie, so weit wie möglich, versorgt, aber Sie wissen ja, was es bedeutet, in Zelten zu leben...“
Schwierige Geschichten
Die Behörden tun nach Bačkis‘ Eindruck „eine Menge, um zu helfen“. Andererseits sei es natürlich „nicht ideal, längere Zeit in Zelten zu leben“.
„Ich habe nur mit einigen Migranten sprechen können – aber sie haben mir schwierige Geschichten erzählt. Ich erinnere mich an eine Familie: eine jesidische Familie aus dem Nordirak, wo sie stark verfolgt wurde. Als der Papst im Irak war, hat er die Jesiden besonders erwähnt. Sie haben alles verloren, ihr Zuhause... Sie wollen über Litauen nach Europa gelangen. Mit einem Wort, all diese Menschen wollen ein besseres Leben, sie wollen in Westeuropa ein neues Leben beginnen.“
Bačkis schimpft aber nach seinem Besuch an der Grenze nicht auf die Beamten, die versuchen, den Ansturm aus Belarus irgendwie aufzuhalten.
„Ich war an den Kontrollpunkten, und ich habe die Haltung der Grenzbeamten und Soldaten bewundert. In Adutiškis leben zum Beispiel 75 Migranten, Familien mit kleinen Kindern. Die Kinder gehen um die Straßensperre herum, als ob es ihr Zuhause wäre. Sowohl die Caritas als auch das Rote Kreuz helfen ihnen. Mit einem Wort, wir tun, was wir können, aber andererseits sind unsere Möglichkeiten in Litauen begrenzt.“
Unsere Leute beruhigen
Das größte Problem aus kirchlicher Sicht besteht nach dem Eindruck des Kardinals darin, „dass wir unsere Leute beruhigen müssen“.
„Zu Beginn, als die Migranten ankamen, wurden sie als eine Art kleine grüne Männchen dargestellt, die von Lukaschenko geschickt wurden, als potenzielle Feinde. In der Gesellschaft herrschten Unruhe, Angst und Ablehnung. Dementsprechend war auch der Tenor in den Medien. Dies hat sich nun etwas geändert. Man beginnt, an Menschen zu denken, die Hilfe brauchen. Mancherorts bitten die Pfarrer der Gemeinden um Hilfe, und mancherorts, wie in Adutiškis, helfen die Kommunen. In der Küche der Schule in Adutiškis wird warmes Essen für Migranten zubereitet. Aber ich weiß nicht, was passieren wird, wenn das Schuljahr beginnt?“
Die litauische Caritas bringt den Migranten Kleidung, in vielen Pfarreien wird für die Gäste an der Grenze gesammelt. Es gebe viel guten Willen, sagt Bačkis. Doch eigentlich wünscht er sich die ganze Gesellschaft Litauens offener und einfühlsamer.
Mit spontaner Hilfsbereitschaft ist es nicht getan
„Hier müssen wir vorankommen. Die Litauer sind nicht verschlossen, aber wenn ein etwas anderer Mensch hierherkommt, wird er mit einem gewissen Argwohn, mit einem gewissen Misstrauen betrachtet. Es ist keine Ablehnung, sondern ein Schutz... Das muss durchbrochen werden. Die Nächstenliebe verlangt, dass man ein barmherziger Samariter ist, dass man sich zu jedem Menschen hinunterbeugt.“
Und mit spontaner Hilfsbereitschaft sei es nicht getan. Die Kirche sollte dafür sorgen, dass Migranten, die im Land bleiben wollen, auch in der litauischen Gesellschaft längerfristig integriert würden, so der Kardinal.
„Unsere Priester warten auf die Worte der Bischöfe, welche Richtung sie einschlagen und was sie tun sollen. Im Allgemeinen sehe ich in unserer Kirche die Bereitschaft, sich so gut wie möglich um diese Menschen zu kümmern. Wenn wir uns jedoch an die Enzyklika ‚Fratelli tutti‘ des Papstes denken, in der er über Migranten spricht und sagt, dass wir sie willkommen heißen, sie schützen, ihnen helfen und sie integrieren müssen, dann haben wir bisher nur den ersten und zweiten Schritt getan. Darüber hinaus sehe ich keine Vision, es wird nicht darüber gesprochen…“
(vatican news – sk)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.