Missbrauchs-Überlebender Cruz: „Missbrauch ist wie Krebs“
Salvatore Cernuzio und Christine Seuss - Vatikanstadt
„Ich glaube, dass es wichtig ist, unglaublich wichtig, dass man beginnt, den Opfern zuzuhören, denn viele Male hat die Kirche die Opfer ignoriert oder sie wurden als Feinde der Kirche angesehen, nur weil sie die erlebte Tragödie erzählt haben. Damit scheint nun Schluss zu sein…“: Das sagte gegenüber Vatican News Juan Carlos Cruz, Missbrauchsüberlebender in Chile, der maßgeblich daran mitgewirkt hat, dass sein ehemaliger Peiniger, der chilenische VIP-Priester Fernando Karadima, durch Papst Franziskus in den Laienstand versetzt wurde.
Für ihn ist es wichtig, dass der Kampf gegen Missbrauch nun ganz oben auf der Agenda der Kirche steht: „Alles dank des Papstes, der wirklich besorgt über das Problem ist. Hoffen wir, dass die gesamte Kirche diese Sorge teilt“, so der Journalist und Aktivist, der mittlerweile in den Vereinigten Staaten lebt. Die derzeit tagende Kinderschutz-Konferenz in Warschau ist für ihn nicht nur ein wichtiges Resultat der Arbeit der Päpstlichen Kinderschutzkommission, deren Mitglied er selbst seit März ist, sondern auch eine persönliche Genugtuung. Denn er war jahrelang seinem Peiniger Fernando Karadima ausgeliefert, der in Santiago de Chile unbehelligt Minderjährige und Seminaristen missbrauchen konnte - geschützt durch beste persönliche Beziehungen in Politik und Gesellschaft, ebenso wie durch ein System von Vertuschung und Wegsehen in der Kirche.
Franziskus hatte sich Cruz‘ Geschichte von ihm persönlich erzählen lassen, bei einem Treffen in der Casa Santa Marta wenige Monate nach seiner Reise nach Chile und Peru im Januar 2018. Cruz kam gemeinsam mit zwei anderen Missbrauchsüberlebenden, die sich dem Kampf gegen das Schweigen verschrieben haben: James Hamilton und José Andrés Murillo. Das Treffen mit dem Papst sei „lang und bewegend“ gewesen, berichteten die drei Besucher im Anschluss an die Begegnung. Und diese „Umarmung mit dem Heiligen Vater“ sei es letztlich auch gewesen, die ihn wieder mit der Kirche versöhnt habe, die er vorher – nicht nur wegen des erlebten Missbrauchs, sondern auch wegen der systematischen Vertuschung der Verbrechen - als „absolut böse“ ansah, erzählte Juan Carlos Cruz später.
Im Gespräch mit Vatican News zeigte sich Cruz kurz vor seiner Abreise zur Warschauer Kinderschutzkonferenz zutiefst dankbar für die Zuneigung, die der Papst ihnen, den Überlebenden, entgegengebracht habe, aber auch für die Tatsache, dass dank ihm das Thema Missbrauch nun „höchste Dringlichkeit“ bekommen habe. Bei der Kinderschutzkonferenz in Warschau sieht es Cruz vor allem als seine Aufgabe an, allen Teilnehmern „die Perspektive der Überlebenden aus allen Teilen der Welt“, mit denen er in regem Austausch steht, zu vermitteln. Denn die Opfer seien „gute und intelligente Menschen“, die jedoch auch heute noch „unglaublich viel leiden“: „Ich spüre, dass das meine Arbeit hier in der Kommission ist, in die Franziskus mir die Ehre erwiesen hat mich zu berufen: stets den Blickwinkel der Überlebenden einzubringen und daran zu erinnern, was und wie viel wir für die Opfer tun. Mit anderen Worten, Dringlichkeit und Verantwortung eintrichtern und - hoffentlich – konkrete Konsequenzen in den Ortskirchen erreichen, denn die Arbeit ist groß, und es gibt noch viel zu tun.“
Er selbst sei „stets aufs Neue beeindruckt“ von den sehr gut vorbereiteten Mitgliedern der Kommission und von der Tatsache, dass der Papst dem Thema so große Aufmerksamkeit widme, betont Cruz. „Mich besorgt hingegen die Tatsache, dass es immer noch Bischöfe gibt, die es nicht glauben und die die Dringlichkeit dieses Problems nicht sehen. Das Beispiel, das ich immer bringe, ist das der Missbräuche als Tumor: Sie schneiden ihn dir raus, aber du musst trotzdem eine Chemotherapie machen, sonst kehrt der Krebs zurück. Wenn man ihn nicht ein für alle Mal ausmerzt, dann wird er ein konstantes Problem. Ich hoffe also - ich wiederhole -, dass ich diese Sichtweise einbringen kann, die die Sichtweise der Opfer ist und all derer, die noch viel leiden.“
Die Überlebenden von Missbrauch hätten überall, nicht nur in Mittel- oder Osteuropa, mehr Ermutigung nötig, betont Cruz mit Blick auf den Austragungsort der Kinderschutzkonferenz in Warschau. In einigen Orten auf der Welt fänden sich die Opfer von Missbrauch sogar in einer lebensbedrohenden Situation, gibt der Überlebende zu bedenken: „Man denke nur an die Überlebenden zum Beispiel in Uganda, wo Homosexualität strafbar ist, also entweder sterben sie oder sie gehen ins Gefängnis. Ich habe auch Überlebende getroffen, die selbst nicht homosexuell sind, aber Angst davor haben, zu sagen, dass sie von einem Priester missbraucht wurden, weil die Leute ja sagen könnten, dass sie homosexuell sind und sie deshalb sogar sterben könnten. Denkt nur daran, wie schrecklich das ist… Es ist sicher wahr, dass es Faktoren in den verschiedenen Ländern gibt, die es für die Opfer noch schwieriger machen, ihre Geschichte zu erzählen.“
In Warschau sei er selbst bereits vor einigen Jahren gewesen, bei einer Begegnung mit Missbrauchsüberlebenden, die diese selbst organisiert hätten: ein „informelles und vertrauliches Treffen an einem belebten öffentlichen Ort“, erinnert sich Cruz. „Ich dachte, dass niemand kommen würde, und stattdessen waren rund hundert Menschen dort, obwohl viele noch sehr ängstlich waren. Deshalb bin ich froh, dass es jetzt in dieser Stadt zu diesem Schrittwechsel kommt - dass die Menschen sehen können, dass die Kirche eine derartige Konferenz organisiert.“
Vor allem hoffe er jedoch, dass sich dies auch in anderen Ländern wiederholen könne, vor allem dort, wo die Bischöfe nach wie vor davon überzeugt seien, dass das Problem des Missbrauchs nur andere betreffe… „Nein, die Plage des Missbrauchs ist überall und wir müssen wachsam sein, den Opfern helfen, ihnen glauben, ihnen die Hand reichen, sie mit dem Anstand behandeln, den sie verdienen, und angemessene Prozesse suchen, um ihnen Gerechtigkeit zu garantieren.“
Von der Konferenz erhoffe er sich vor allem das Signal, dass es sich bei der Beschäftigung mit dem Phänomen des Missbrauchs um eine wahre „Notfallsituation“ handele, betont Cruz. „Wenn wir uns nicht mit diesen Problemen beschäftigen, bleiben wir nur an der Spitze des Eisbergs. Ich muss sagen, gegenüber der Vergangenheit ist viel getan worden. Das ist sicher! Und wie ich gesagt habe, gebührt der größte Verdienst dabei Papst Franziskus, der ehrlich besorgt ist. Ich wünsche mir, dass die gesamte Kirche diese Sorge des Papstes teilt.“
(vatican news)
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