Kinderschutzkonferenz Warschau: Schonungslose Bestandsaufnahme
Salvatore Cernuzio und Christine Seuss - Vatikanstadt
„Die Kirchenleitung hat es ernsthaft versäumt, auf die ans Licht gekommenen Anschuldigungen zu reagieren. Sie haben sich auf das Ansehen der Kirche konzentriert und nicht auf den Schutz von Minderjährigen“: Die niederländischen Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens nimmt in ihrer Bestandaufnahme zum Umgang mit Missbrauchsvorwürfen in der Kirche kein Blatt vor den Mund. Sie ist Professorin in Erfurt und Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen. Bei der derzeit tagenden internationalen Konferenz in Warschau hob sie am Montag schonungslos die Fehler der Kirche im Umgang mit Missbrauch hervor.
Die Konferenz, die an diesem Sonntag mit Grußworten des Vorsitzenden der polnischen Bischofskonferenz und einer Videobotschaft von Papst Franziskus gestartet war, ist anschließend von Kardinal Sean O'Malley, dem Präsidenten der Vatikankommission zum Schutz Minderjähriger, offiziell eröffnet worden. In seinem spontanen und persönlich gehaltenen Statement vor seinem eigentlichen Eröffnungsvortag über die „Notwendigkeit der Umkehr“ betonte der Kardinal, auch bei ihm habe die „pastorale Umkehr“ in Sachen Missbrauch lange gedauert. Zur Erinnerung: Der heutige Präsident der Kinderschutzkommission wurde von Papst Johannes Paul II. 2003 nach Boston berufen, zu einer Zeit, als in der Erzdiözese dank der Recherchearbeit des Spotlight-Teams gerade der Skandal des massiven und von der Kirchenleitung gedeckten Missbrauchs Minderjähriger durch Priester öffentlich geworden war.
Doch der Kapuziner hatte schon an seinen früheren Wirkungsstätten mit Missbrauch durch Priester zu tun bekommen: 1992 war er durch den Papst zum Bischof von Fall River in einer streng katholischen Gegend von Massachusetts ernannt worden. Nur kurz zuvor war auch dort ein schrecklicher Fall von massenweisem Kindesmissbrauch durch einen Priester bekannt geworden. „Als ich dort ankam“, so Kardinal O’Malley, „war eine meiner ersten Aufgaben, einige Opfer und ihre Familien zu treffen. Sie füllten einen Saal, der viel größer war als dieser hier. Es waren hunderte von Menschen. Ich muss sagen, ich war versteinert vor Angst. Aber das war der Beginn meiner pastoralen Konversion, ihre Geschichten anzuhören und mich mit dem zu identifizieren, was sie mir erzählten.“
Zehn Jahre später wurde er nach Palm Beach berufen, wo zwei Bischöfe im Zusammenhang mit Pädophilie ihren Hut hatten nehmen müssen. „Bei der Pressekonferenz, die wir organisiert haben, als ich angekommen bin, war die erste Frage an mich: Bist auch du ein Pädophiler?“
Schließlich, 2003, die Versetzung nach Boston und die Aufgabe, die Wunden in einer Erzdiözese zu heilen, in der die systematische Versetzung von Missbrauchstätern durch die Kirchenleitung erst durch die hartnäckigen Recherchen eines Reporterteams ans Licht gekommen war. Im Jahr 2015 entstand auf Basis dieser Ereignisse der oscar-gekrönte Film „Spotlight“ von Tom McCarthy, „ein Film, der wehtut, aber ich denke, es wäre sehr gut für die Leitung der Kirche, diesen Film anzusehen, um ein besseres Verständnis dafür zu haben, was an einem Ort wie Boston geschehen ist“, so O’Malley. Es sei schmerzlich gewesen, was die Reporter aufgedeckt hätten, doch letztlich „haben sie uns geholfen zu verstehen, dass da ein verborgener Krebs sitzt, der bekämpft werden muss, oder er wird uns töten.“
Am Montagvormittag meldete sich bei der hochkarätig besetzten Tagung via Streaming zunächst Tomáš Halík zu Wort. Der Professor an der Karlsuniversität in Prag und Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie wurde während des kommunistischen Regimes heimlich zum Priester geweiht; lange war er auch Generalsekretär der tschechischen Bischofskonferenz. „In einem Geist der Demut und mit schmerzendem Herzen“ forderte Halík die Anwesenden auf, „eine der schmerzhaftesten Wunden der Kirche zu berühren“, nämlich die des sexuellen Missbrauchs, aber auch des Macht- und Gewissensmissbrauchs an Minderjährigen oder verletzlichen Erwachsenen.
„Der mystische Leib des auferstandenen Christus trägt auch Wunden, und wenn wir diese Wunden ignorieren, wenn wir sie nicht berühren wollen, dann hätten wir nicht das Recht, mit dem Apostel Thomas zu sagen: Mein Herr und mein Gott! Ein Christus ohne Wunden, eine Kirche ohne Wunden, ein Glaube ohne Wunden, ist nur eine teuflische Illusion”, so der Geistliche. „Im Vertrauen auf die heilende und befreiende Kraft der Wahrheit“, fügte er hinzu, „wollen wir die Wunden berühren, die die offiziellen Vertreter der Kirche den Wehrlosen, insbesondere den Kindern und Jugendlichen, zugefügt haben; damit haben sie auch der Glaubwürdigkeit der Kirche in der heutigen Welt langsam und schwer heilende Wunden zugefügt.“
Halík sieht die Kirche heute in einer ähnlichen Lage wie vor 500 Jahren unmittelbar vor der Kirchenspaltung. Das, was damals der Ablassverkauf gewesen sei, sei heute der Missbrauch. Beide hätten zu Beginn wie missliche Randerscheinungen ausgesehen, zeigten aber „damals wie heute die tieferliegenden Probleme, die Krankheiten des Systems: die Beziehung zwischen Kirche und Macht, Klerus und Laien, und viele andere." Die Kirche brauche „eine tiefe Reform", stellte der tschechische Priester klar. Vor allem zeigten die Missbrauchsfälle „die Krise des Klerus insgesamt“. Diese Krise könne „nur durch ein neues Verständnis der Rolle der Kirche in der heutigen Gesellschaft überwunden werden“, als „Schule der christlichen Weisheit“, „Feldlazarett“ und „Ort der Begegnung, des Austauschs und der Versöhnung“.
Reflexion über die Verantwortung eines Diözesanbischofs
Nach den Beratungen der einzelnen Arbeitsgruppen trat nachmittags dann Myriam Wijlens ans Mikrofon. Erst kürzlich hatte die Erfurter Kirchenrechtlerin das Vorbereitungsdokument der Synode über die Synodalität in Rom vorgestellt. Sie analysierte in ihrem Vortrag die Krise, die durch Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kirche entstanden ist. Es gebe zwei Punkte, die den meisten Ortskirchen gemeinsam sind, so die Professorin, die Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission ist: nämlich zum einen die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche, die Opfer von Gewalt werden, „nicht nur ihrer Würde und sexuellen Integrität beraubt“, sondern oft für den Rest ihres Lebens „in ihrem christlichen Glauben tief verletzt werden“.
Dazu komme dann die Tatsache, dass das Vertrauen, das die Gläubigen und die Gesellschaft in die Kirchenleitung setzen, „ernsthaft beeinträchtigt ist und zu einem Mangel an moralischer Autorität führt“. Eine solche Krise erfordere „eine theologische und kanonische Reflexion über die Verantwortung eines Diözesanbischofs im Hinblick auf die Gewährleistung von Prävention, Intervention, Gerechtigkeit und Heilung“, betonte die Kirchenrechtlerin. Papst Franziskus habe schließlich entschieden, „dass Bischöfe, wenn sie in ihrer Aufgabe versagen, dafür Rechenschaft ablegen und die Verantwortung übernehmen müssen“.
Mindeststandards einführen
Pawel Wiliński, Richter der Strafkammer des Obersten Gerichtshofs Polens, sprach in diesem Zusammenhang von „einigen Mindeststandards für Rechte, Unterstützung und Schutz“, angefangen bei den in den vergangenen Jahren entwickelten grundlegenden Normen des Kirchenrechts, die eine psychologische und spirituelle Unterstützung der Missbrauchsüberlebenden vorsehen. „Es erscheint notwendig, wirksame Mindestgarantien zu erörtern und vorzusehen“, so Wiliński, „um ihre Interessen während und im Zusammenhang mit laufenden Verfahren zu schützen, darunter unter anderem das Recht auf rechtliche Vertretung, Information und Wiedergutmachung, um einen wirklichen Schutz der Minderjährigen zu gewährleisten und zu verhindern, dass sich ihre Verletzungen verschlimmern und sie veranlassen, Hilfe außerhalb der Kirche zu suchen.“
(vatican news)
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