Suche

Kreuz in Saint-Fiacre-sur-Maine Kreuz in Saint-Fiacre-sur-Maine 

Überlebende zu Missbrauchs-Bericht in F: „Endlich wird unsere Stimme laut“

Die Unabhängige Kommission für sexuellen Missbrauch in der Kirche (CIASE) hat am Dienstag in Paris ihren Bericht über sexuelle Gewalt gegen Minderjährige in der Kirche in Frankreich vorgelegt. Véronique Garnier, die als junges Mädchen selbst von einem Priester missbraucht wurde, zeigt sich im Gespräch mit Radio Vatikan erleichtert über den historischen Schritt.

Christine Seuss und Hélène Destombes - Vatikanstadt

Das fast fünfhundert Seiten umfassende Dokument berichtet von 330.000 Minderjährigen, die seit 1950 in Frankreich in kirchlichen Einrichtungen missbraucht wurden. Darunter sind 216.000 Opfer von Missbrauch durch eine geweihte Person (Priester, Ordensmänner und -frauen, Diakone).

Der Bericht ist das Ergebnis zweieinhalbjähriger Untersuchungen und Anhörungen der Überlebenden durch eine interdisziplinäre Kommission, die aus 21 ehrenamtlichen Mitgliedern zusammengesetzt war. Der ehemalige Richter Jean-Marc Sauvé hatte die Kommission auf Ersuchen der französischen Bischofskonferenz und der französischen Ordenskonferenz zusammengestellt.

„Für mich ist das keine Zahl, es ist 330.000 Mal dasselbe, was ich erlebt habe“

Hier im Audio

Bei der Vorstellung des Berichts am Dienstagmorgen war auch Véronique Garnier dabei. Sie ist in der Diözese Orléans für den Schutz von Minderjährigen mitverantwortlich. Sie selbst wurde im Alter von 13 bis 15 Jahren von einem befreundeten Priester missbraucht. Den Bericht hat sie mit großer Rührung aufgenommen. Im Hinblick auf die genannte Zahl von 330.000 Opfern im kirchlichen Umfeld meint Garnier:

„Für mich ist das keine Zahl, es ist 330.000 Mal dasselbe, was ich erlebt habe. Es ist ein großer Schmerz für mich, aber gleichzeitig - überraschenderweise - auch eine große Erleichterung, denn ich habe von Herrn Sauvé die Worte gehört, auf die ich lange gewartet habe.“ Der Schrei der Opfer – den Garnier mit dem „Schrei der Armen“ vergleicht, der in der Kirche nur allzu lange ignoriert worden sei - sei endlich gehört worden, zeigt sich die heute 60-jährige Katholikin erleichtert:

„Heute geschieht etwas Historisches, denn ich denke, es wird ein ,Vorher‘ und ein ,Nachher‘ geben. Niemand wird sagen können, dass es nicht ernst ist. Endlich wird unsere Stimme laut, und das finde ich sehr berührend.“

„Heute müssen wir uns für das, was uns widerfahren ist, nicht mehr schämen“

Das, was die Opfer von Missbrauch erlebt hätten, sei „unvorstellbar“, betont Garnier. Deshalb sei es kaum zu erwarten, dass Menschen, die nicht ähnliches durchgemacht hätten, die Leiden der Opfer verstünden, meint die Frau, die als junges Mädchen von einem Priester missbraucht wurde. „Aber es gab auch Menschen, die ihre Herzen mit unserem Schmerz verbanden. Das Außergewöhnliche an den Mitgliedern der Kommission war, dass sie uns wirklich ihr Herz öffneten und uns ihre Menschlichkeit zeigten. Wir sagten, dass Menschlichkeit verwundet worden ist: ihre Menschlichkeit hat diese Wunde aufgenommen, die so ein bisschen ihre eigene wurde. Und ihre leidende Menschlichkeit gibt uns wiederum einen Teil unserer Menschlichkeit zurück. Was geschehen ist, ist nicht normal, es hilft uns, aufzustehen und uns nicht mehr zu schämen. Heute müssen wir uns für das, was uns widerfahren ist, nicht mehr schämen.“

„Wie konnte er die Hostie nicht beschmutzen, wenn er mich beschmutzte“

Das Leiden, das ihnen durch Mitglieder der Kirche widerfahren sei, gehe allerdings weit über das eigene, persönliche Leiden hinaus, gibt Garnier zu bedenken. Denn die Kinder und Jugendlichen, die in der Kirche missbraucht würden, Messdiener, Pfadfinder, Pfadfinderinnen, seien „Kinder des Glaubens“: „Ihr Glaube, unser Glaube, unsere Seele, ist ebenfalls zerrissen, und das ist ein noch tieferes Leiden, über das niemand spricht, von dem sich niemand vorstellt, in welchem Ausmaß es sie am Leben hindert, nicht nur am Leben ihres Glaubens, sondern am Leben überhaupt. Und ich möchte sagen, wie viel Schmerz ich heute noch empfinde, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Eucharistie, wenn ich an die Zeiten zurückdenke, als der Priester, der mich missbraucht hat, das Sakrament der Eucharistie gefeiert und die Hostie berührt hat: Wie konnte er die Hostie nicht beschmutzen, wenn er mich beschmutzt hat? Dieser tiefe Schmerz der Seele wird nicht oft genug erwähnt. Ich glaube, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern, von Jugendlichen, sie davon abhält, zu Christus zu kommen, ja, dass er sogar ihre Kinder und deren Kinder davon abhält, zu Christus zu kommen. Und das ist der wirkliche Skandal - zusätzlich zu den Verbrechen und Vergehen der Priester.“

Ein neues Kapitel 

In der Kirche sei ihr oft gesagt worden, dass sie ein neues Kapitel aufschlagen müsse. Doch an diesem Dienstag habe für die Kirche selbst ein neues Kapitel begonnen, das unter der Überschrift „Sauvé-Bericht, 5. Oktober 2021“ stehe: Ein Kapitel, in dem die Kirche selbst am Zug sei, zu dokumentieren, was Diözese für Diözese, Gemeinde für Gemeinde getan werde, damit ähnliches nie wieder geschehen könne. Und in diesem Zusammenhang sei auch die Forderung des Berichtes nach Aufarbeitung und einer Reform in der Kirche zu sehen.

„Wir können feststellen, dass der Sauvé-Bericht die Opfer in den Mittelpunkt gestellt hat. Man hat mit uns gearbeitet, man hat uns zugehört. Wir haben gemeinsam etwas aufgebaut. Diese Art der Bekehrung erwarte ich von der Kirche. Und eine Bekehrung jedes Einzelnen von uns, wo immer wir sind. Ich denke, dass wir es mit einer Sündenstruktur zu tun haben, einer kollektiven Sünde, die eine kollektive Antwort erfordert. Aber kollektiv heißt nicht die anderen, sondern jeder für sich und alle zusammen. Es gibt nur eine Hoffnung: dass die eine Milliarde 400 Millionen Katholiken nach und nach ihre Herzen bekehren und Christus wieder in den Mittelpunkt der Kirche stellen, nicht die Kirche selbst. Die Kirche ist kein Selbstzweck, sie muss Christus wieder in den Mittelpunkt stellen; wenn Diözesen, Gemeinschaften die Opfer in den Mittelpunkt ihrer Anliegen stellen, in den Mittelpunkt ihres Zuhörens, in den Mittelpunkt ihrer Eucharistie... dann irren sie sich nicht, denn sie stellen Christus wieder in den Mittelpunkt. Das erwarte ich. Es ist viel, aber das ist meine Hoffnung.“

(vatican news)

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

06. Oktober 2021, 11:43