Irak: Verschärfung der Krise gibt Anlass zur Sorge
Mario Galgano und Claire Riobé - Vatikanstadt
Pierre-Jean Luizard ist Forschungsdirektor am Institut CNRS in Paris und hat sich auf die Strategien der schiitischen und sunnitischen Gemeinschaften im Irak spezialisiert. Eine Woche nach dem versuchten Mord an Premierminister Mustafa al-Kadimi in der Nacht vom 6. auf den 7. November 2021 befasst er sich im Gespräch mit Radio Vatikan mit der politischen und institutionellen Krise im Irak. So erläutert der Experte:
„In Bagdad kursieren Gerüchte, dass die pro-iranischen Schiitenmilizen für den Mordversuch verantwortlich seien. Dies ist durchaus wahrscheinlich, da die Wahllisten, die diesen Milizen folgten, bei den letzten Wahlen eine schwere Niederlage erlitten hatten. Sie wollen den Premierminister daran erinnern, dass der Sieg über die Dschihadisten des Islamischen Staates ihnen zu verdanken ist und dass sie dafür einen Preis in Form von Posten in der künftigen irakischen Regierung zu zahlen haben.“
Die Rolle al-Sadrs
Der irakische Geistliche und Politiker Muqtada al-Sadr, der als Schiitenführer gilt, begrüßte die Papstreise in sein Land. Vor wenigen Monaten galt al-Sadr noch als die geistliche Führung des Iraks schlechthin. In wenigen Monaten habe sich aber die Lage komplett verändert, so Luizard:
„Wir befinden uns in einer Situation, in der es kein politisches Glaubensbekenntnis mehr gibt, sondern nur noch kurzfristige Interessen zu verteidigen sind, was die Position von Muqtada al-Sadr gut veranschaulicht.
Nachdem er zum Boykott der Wahlen aufgerufen hatte, nahm er trotzdem an ihnen teil, und als seine Liste im vergangenen Oktober den ersten Platz belegte, brüstete er sich mit diesem Sieg, als wären sie auf einmal legitim und würden seine Mehrheit ausweisen. Wir haben es hier mit einem Opportunismus zu tun, an den uns Muqtada al-Sadr bereits gewöhnt hat. Dies zeigt, dass die politische Klasse im Irak, ob religiös oder nicht, vollständig in ein System eingebunden ist, das mit dieser vorhersehbaren Konfrontation innerhalb der Mehrheitsgemeinschaft im Irak auf seinen Untergang zusteuert.“
Wie weiter?
Auf die Frage, welche Lösungen denn in der Irak-Krise denkbar wären, antwortet der Fachmann: Sicherlich keine Neuwahlen, da diese nur ein unhaltbares System legitimieren würden. Die internationale Gemeinschaft müsste seiner Meinung nach eingreifen und sich für eine Infragestellung der Institutionen einsetzen, indem sie ein Referendum durchführen ließe. Ein Knackpunkt sei insbesondere die Zukunft Kurdistans, die seit dem Referendum von 2017 weiterhin zur Debatte stünde. Dieses hatte dem Wunsch der Kurden nach einer Unabhängigkeit vom Irak Ausdruck verliehen. Geschehen sei bisher nichts.
„Nur die internationale Gemeinschaft und insbesondere die UN-Missionen wären in der Lage, eine solche Krise zu bewältigen, aber es gibt nur wenig Hoffnung, dass dies geschehen kann, da die Paten des Systems - die Iraner oder die US-Amerikaner - heute nicht bereit sind, ihren Platz in der Verwaltung eines Systems zu räumen, selbst wenn dieses bankrott ist“, stellt Pierre-Jean Luizard von Forschungsinstitut CNRS in Paris fest.
(vatican news)
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