Haiti: „Wir wollen kein Mitleid“
In diesem Jahr bedeutete wohl der Mord am Staatspräsidenten, Jovenel Moise, am 7. Juli den Tiefpunkt. Das sagt auch der Historiker Roody Edmé, der für die Tageszeitung „Le National“ schreibt, in unserem Interview.
„Der Mord am Präsidenten war der schlimmste Ausdruck einer Gewalt, die auch vorher latent längst präsent war. Es war ein spektakulärer Akt, der die öffentliche Meinung schockiert hat. Wir haben dieses Jahr eine bisher nicht dagewesene Verbreitung von kriminellen Banden erlebt, die sich immer mehr Terrain erobert haben. Es ist das erste Mal, dass wir so viel Unsicherheit in den Straßen erleben. Doch, es stimmt schon, dieses Jahr war besonders schwierig.“
Mittlerweile geben die Banden auch in ungefähr einem Drittel der Hauptstadt Port-au-Prince den Ton an. Sie kontrollieren außerdem die Straßen zu den drei Ölhäfen Haitis. Weil Politik und Justiz ihnen kaum etwas entgegensetzen, verüben sie immer mehr Morde und Entführungen. Mitte Oktober nahm die Gruppe „400 Mawozo“ in einem Vorort der Hauptstadt 17 Mitglieder einer amerikanischen Missions-NGO gefangen; bis Mitte Dezember wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.
„Die Sicherheitskräfte werden dieser Kriminalität leider nicht Herr; sie haben schon in technischer Hinsicht viele Grenzen. Und viele Polizisten leben ja außerdem in Vierteln, die mittlerweile von einer kriminellen Bande beherrscht werden, und trauen sich deswegen nicht, irgendetwas zu tun, das ihre persönliche Sicherheit und die ihrer Familien beeinträchtigen könnte. Also, wenn es etwas gibt, dass man in Haiti besonders bekämpfen müsste, dann ist es die Straflosigkeit – denn sie ist es, die den Banden einen Spielraum gibt, den sie vorher nicht hatten.“
Korruption durchsetzt die ganze Gesellschaft
Edmés Wunschzettel für seine Heimat ist aber noch länger: Die Polizei verstärken, die Justiz reformieren. Und etwas gegen die Korruption in der Politik unternehmen.
„Die Korruption berührt längst die höchsten Sphären von Politik und Wirtschaft – aber auch die Strukturen in den Slum-Vierteln. Denn die Leute dort leben von kleinen Gelegenheits-Jobs, sind auf Gefälligkeiten angewiesen. Das ist ein System des Überlebens, das sich da etabliert hat.“
In der Zivilgesellschaft tut sich was
Haiti, das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, wird zu allem Überfluss auch immer wieder von Naturkatastrophen getroffen – zuletzt Mitte August im „Grand Sud“ von einem schweren Erdbeben. Dabei kamen über 2.000 Menschen ums Leben, über 12.000 wurden verletzt. Mehr als 4.000 Wohnhäuser und 170 Schulen stürzten ein. „Ungefähr 400.000 Kinder können immer noch nicht in die Schule zurückkehren.“
Dennoch sieht Edmé nicht nur schwarz für seine Heimat. In der Gesellschaft Haitis tue sich in jüngster Zeit etwas, berichtet er uns.
„Da gibt es eine Gruppe, die sich ‚Montana-Gruppe‘ nennt – sie hat ein Projekt auf die Beine gestellt, um Haiti von innen heraus zu verändern. Eine andere Gruppe, die sich ‚Carrefour de l’espoir‘ (Kreuzung der Hoffnung) nennt, macht etwas ganz Neues: Sie bringt Menschen ganz verschiedener Ideologie oder Religion zusammen, setzt sie an einen Tisch und lässt sie darüber reden, wie sie sich die Zukunft Haitis vorstellen.“
Nachdenken über die Zukunft Haitis
So etwas habe es in Haiti bislang nicht gegeben. Vorbilder für diese Dialog-Initiative kommen nach Edmés Angaben aus Südafrika und El Salvador.
„Diese Gesprächskreise breiten sich in immer mehr Landesteilen aus; da machen auch Leute aus dem Privatsektor oder aus den Gewerkschaften mit. Menschen, die nachdenken und an Szenarios arbeiten, wie sich die haitianische Gesellschaft verändern ließe. Diese Strukturen geben immer mehr Anlass zu Hoffnung. Die Zivilgesellschaft Haitis wacht auf!“
Solidarität, nicht Bevormundung
Edmé träumt von einer Art internationalem Marshall-Plan für sein Land: Investitionen in die Infrastruktur, ins Gesundheits- und Schulwesen. „Wenn diese Kräfte sich mit unseren internen, progressiven Kräften verbünden würden, dann könnte man etwas erreichen. Die Haitianer sagen gern, dass sie keine ausländische Einmischung wollen – aber damit meinen sie, dass sie nicht wollen, dass man etwa ihren Staatschef für sie auswählt. Das bedeutet nicht, dass sie sich keine Solidarität von außen wünschen, keine technische Unterstützung.“
Es gehe den Menschen in Haiti darum, nicht bevormundet zu werden, insistiert Edmé: „Wir brauchen kein Mitleid, wir brauchen Unterstützung! Die Stimme der Haitianer müssen gehört werden. Und man darf Haiti nicht nur als Unglücksland behandeln – wir sind auch ein Land der Hoffnung. Ein Land, wo sich Menschen engagieren, diskutieren, ihr Schicksal in die Hand nehmen wollen. Wir würden uns wünschen, dass man nicht immer nur auf unsere Armut schaut, oder auf die bewaffneten Banden. Es gibt sie, das stimmt schon; aber es gibt auch ein ganzes Volk, das sein Leben ändern will und dabei auf internationale Solidarität hofft.“
(vatican news – sk)
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