Italien: Gemeinwohl nicht auf politischer Agenda?
Marco Guerra und Anne Preckel - Vatikanstadt
Bei seiner fliegenden Pressekonferenz auf dem Rückflug von Kasachstan hatte Papst Franziskus in einem Nebensatz zu Europa und Italien über die Abwesenheit großer Politiker wie Schuman, Adenauer und De Gasperi geklagt. Statt Einzelinteressen und bequeme Ziele zu verfolgen müsste die Politik brennende Probleme wie die soziale Ungerechtigkeit und den Populismus angehen, so Franziskus sinngemäß, der auch den „demografischen Winter“ und eine mangelhafte Solidarität gegenüber Migranten kritisierte.
Im Vorfeld der vorgezogenen Parlamentswahlen am 25. September in Italien wird in katholischen Kreisen wieder verstärkt die Frage nach der Relevanz der Katholiken in der politischen Kultur des Landes gestellt. So rief der Sant’Egidio-Gründer Andrea Riccardi im „Corriere della Sera” zu einem Glauben auf, „der Kultur werden muss“, wie ihn der polnische Papst Johannes Paul II. beschrieben hatte. Im Istituto Luigi Sturzo in Rom diskutierten am Dienstag Historiker, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten über den Wandel der italienischen Politik und die Rolle der Katholiken. Mit im Podium saß der Historiker Agostino Giovagnoli, den Vatican News im Anschluss befragte.
Eine unwirtliche Politik für katholische Anliegen
Laut Giovagnoli traten der politische Einfluss von Italiens Katholiken und deren spezifische Kompetenzen seit Ende der Christdemokratie in Italien im Jahr 1994 zunehmend in den Hintergrund. Katholiken sind heute in allen Parteien zu finden, aber dort ohne spezifischen Einfluss. Ihre gesellschaftliche Präsenz übersetze sich nicht in eine politische Kraft, so der Beobachter, der sogar von Marginalisierung spricht.
„Die Präsenz der Katholiken in Italien ist sehr bedeutsam hinsichtlich ihres sozialen, zivilen und kulturellen Engagements (in der Gesellschaft, Anm.). All das führt aber nur zum Teil zu einem Dialog mit der Politik. Und hier kommt die Frage der Relevanz der Katholiken ins Spiel... Ich sehe hier allerdings weniger ein Problem bei den Katholiken als vielmehr bei der Politik. Es ist eine unwirtliche Politik gegenüber Katholiken, sie gibt den Hauptsorgen der Katholiken nicht viel Raum, etwa der Perspektive des Gemeinwohls. Das ist kein Ziel der italienischen Politik. Das politische System der so genannten ,Zweiten Republik‘ tendiert in seiner verzweifelten Bipolarität eher dazu, Konflikte, Gegensätze und Antagonismus zu schüren und nicht das Gemeinwohl zu fördern.“
Das Ende der Christdemokraten
Der Historiker bezieht sich dabei auf das Ende italienischen Christdemokraten, die von 1942 bis in die 1990er Jahre hinein noch die beherrschende Kraft der politischen Parteienlandschaft waren. Nach dem Ende der „Democrazia Italiana“ (DC) konnte keine Partei das entstandene christdemokratische Vakuum füllen. Und obwohl die große Mehrheit der Italiener Katholiken sind, haben sie seitdem keine christlich inspirierte Bezugspartei mehr. Als entscheidend sieht Giovagnoli heute weniger die katholische Präsenz in den einzelnen, verschiedenen Parteien als vielmehr den Beitrag von Katholiken in der politischen Landschaft – diese sei überwiegend kulturlos und von einem Stil der Propaganda dominiert. Hier könnten die Katholiken Gegenakzente setzen.
„Leider ist es ein Problem der heutigen italienischen Politik, dass sie sich von einer Kultur ablöst. Die politische Polemik ist leider auf Wahlkampfpropaganda oder wenig mehr reduziert. Das ist absurd, denn wir leben in einer so komplexen Gesellschaft, dass sie, um regiert zu werden, starke Kultur und Kompetenzen braucht, wissenschaftliche, geopolitische usw., für all die großen Fragen, die die Welt von heute beschäftigen.“
Immerhin könne die katholische Kultur positiv wirken
Diesen universellen Blick und diese Sprachfähigkeit sieht der Historiker besonders im Katholizismus verankert – der katholische Zugang zu komplexen Fragen und Problemen, die die Gesellschaft beschäftigen, und die Verankerung in Werten bilden jene Kompetenz, die in Italiens Politik heute Mangelware sei.
„Nehmen wir das Beispiel Frieden, etwa in der Ukraine: Frieden ist eine Priorität für die Katholiken, wie der Papst mehrfach klar gemacht hat. Und es sind nicht nur die Katholiken, die Mehrheit aller Italiener legt Wert darauf. Keine der politischen Kräfte aber, die sich bei den kommenden Wahlen präsentieren, nimmt in klarer und eindeutiger Weise diese Sorge auf. Katholiken vertreten die Mehrheitsposition, das politische System schafft es aber aktuell nicht, dieses Bedürfnis aufzunehmen.“
Die Vertreter des Mitte-Rechts-Blocks in Italien Giorgia Meloni und Matteo Salvini provozierten in der Vergangenheit immer wieder mit europafeindlichen Aussagen, Silvio Berlusconi und Salvini traten mehrfach als Putin-affin in Erscheinung. Wie sich eine neue politische Ausrichtung Italiens in Europa auswirken könnte, bleibt abzuwarten. Aktuelle Umfragen deuten auf eine Rechtswende hin. Die Wahlen, die am kommenden 25. September stattfinden, waren von Staatspräsident Sergio Mattarella nach dem Sturz der Regierung Draghi und der Auflösung des Parlamentes ausgerufen worden.
(vatican news – pr)
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