Unser Weihnachts-Buchtipp: „Papyrus“
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
… Aber welch ein buntes, betörendes Panorama entfaltet sie hier! Um es gleich zu sagen: „Papyrus“ ist mit Sicherheit eines der schönsten, interessantesten, wichtigsten Bücher des Jahres. Hier raschelt kein geduldiges Papier, hier werden auf eindringliche, fundierte Weise einige der großen Fragen des Menschseins verhandelt. Frei nach Descartes: Ich lese, darum bin ich.
Als Bücher so wertvoll waren wie Öl
Los geht diese tour d’horizon in Alexandria, der Heimstatt der berühmten, verlorenen Bibliothek. Vallejo schildert, wie die Ptolemäer im 3. Jahrhundert vor Christus auf die Idee kamen, ihre Hauptstadt an der ägyptischen Mittelmeerküste zu einem Anziehungspunkt für die großen Geister ihrer Zeit zu machen, und wie fanatisch sie in allen Ländern der damals bekannten Welt nach Büchern fahndeten: In der ersten großen Globalisierung, die unser Planet erlebte, waren Bücher ein so rarer, gesuchter Rohstoff wie heute das Öl.
Dann springt Vallejo zurück zu den Anfängen der Schrift und zum ersten Buch, dessen Autor vielleicht, im frühen 5. Jahrhundert vor Christus, der Philosoph Heraklit war. Einen Nachklang seiner Suche nach dem „logos“ des Universums hört sie noch aus dem berühmten Prolog des Johannes-Evangeliums heraus.
Heraklit und das Evangelium
Überhaupt zieht Vallejo immer wieder spannende Parallelen zwischen damals und heute, etwa wenn sie in den Dichtungen eines kleinen Beamten aus dem 19. Jahrhundert ein Echo der goldenen Bücherzeit Alexandrias aufspürt. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Große Bibliothek einem Tempelkult angeschlossen war, bei dem ein Priester „die Rituale der Musen“ zelebrierte, und schlägt von dort einen Bogen zur Initiation jüdischer Jugendlicher im Mittelalter: Diese leckten eine Schrifttafel ab, welche mit Honig beschmiert war, damit die Worte der Bibel symbolisch in sie eingingen. Dass die Römer „einfach alles“ von der griechischen Kultur haben wollten, erinnert unsere Autorin an die USA im frühen 20. Jahrhundert, an Peggy Guggenheim und die europäischen Regisseure in Hollywood.
Unglaublich, wie vielen Pisten die spanische Autorin in „Papyrus“ nachgeht. Sie untersucht, warum Denker wie Sokrates, Buddha, aber auch Jesus Schrift-Skeptiker waren. Warum man in Athen auf dem Markt eine philosophische Abhandlung offenbar schon zum Schleuderpreis von einer Drachme kaufen konnte. Warum das schriftliche Fixieren von Gedanken bedeutete, dass oppositionelle, freche Stimmen sich erstmals Gehör verschaffen konnten (siehe Archilochos, „Europas erste Nervensäge“). Warum auf griechischen Vasen vor allem Frauen als Lesende dargestellt werden. Oder wer der erste Buchhändler war.
Der erste Bestseller: ein Kochbuch
Dabei verzichtet Vallejo darauf, bedeutungsvoll zu raunen oder sich vor allem an Spezialisten zu wenden; stattdessen zeichnet sie ein Bild der Antike in ihrer ganzen Buntheit. Wir erfahren so, dass ein Buch mit den Rezepten eines sizilianischen Starkochs im 5. vorchristlichen Jahrhundert der erste, richtige Bestseller war.
Besonders interessant wird ihre Schilderung in dem historischen Moment, in dem Rom Griechenland militärisch in die Knie zwingt, sich aber umgekehrt der griechischen Kultur unterwirft. „Zum ersten Mal übernahm eine große Supermacht der Antike das Erbe eines fremden, besiegten Volkes als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität.“ Es ist paradoxerweise das „bäuerische Latium“, das dafür sorgt, dass Griechenland als „Nullpunkt der europäischen Kultur“ überlebt.
Ein großer Wurf
Dieses Buch ist mit viel Leidenschaft und Herzblut geschrieben, aber mit ebenso viel Sachkenntnis und Erzählkunst. Selten gelingt eine Einführung in ein historisch-literarisches Thema so mühelos, so inspirierend. Man merkt auf jeder Seite, dass Vallejo für ihr Thema brennt, aber das wird dem Leser nie unangenehm.
Wer „Papyrus“ liest, der taucht tief in die Jahrhunderte der griechisch-römischen Zivilisation ein; und wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, weiß man nicht nur mehr als zuvor, sondern fühlt sich geistig bereichert. Ein großer Wurf.
Irene Vallejo, Papyrus – die Geschichte der Welt in Büchern. Diogenes Verlag, ca. 27 Euro.
(radio vatikan/vatican news)
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