Ukraine: „Wir sind das weinende Bethlehem geworden“
Mario Galgano und Svitlana Dukhovych – Vatikanstadt
Ausgehend von der Frage, warum Unschuldige in der Welt leiden, erörtert der ukrainische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, dass in der Bibel der Kindermord von Bethlehem genau dies aufzeige. Es sei ein „grausames Fest“, das Gläubige kurz nach Weihnachten feiern: König Herodes ließ in Bethlehem Kinder bis zum Alter von zwei Jahren töten.
Einst in Bethlehem, heute in der Ukraine
Dazu Schewtschuk: „Diese Frage bleibt selbst für die theologische Wissenschaft ein mystisches Rätsel. Diese Frage überrascht uns alle. Die menschliche Logik schweigt angesichts des Blutes unschuldiger Kinder. Heute sehen wir, dass der Krieg die sinnloseste Sache ist. Es ist eines der bedeutungslosesten Ereignisse, und es ist fast unmöglich, es rational zu erklären. Warum fließt das Blut von unschuldigen Kindern? Einst in Bethlehem, heute in der Ukraine. Heute fragen wir Gott, den Herrn, noch einmal danach. Und vielleicht können wir hier durch unseren Glauben an den fleischgewordenen Christus, der unter uns geboren wurde, ein wenig Licht des Verständnisses finden.“
Er hoffe deshalb, dass die in der Ukraine noch laufende Weihnachtszeit vor allem den Müttern, die ihre Kinder „in diesem frevelhaften und gottlosen Krieg“ verloren haben, „eine geistige Stütze, Trost und Hilfe“ sei.
Konkrete Solidarität
Als konkrete Solidarität erlebten die Ukrainerinnen und Ukrainer während der Weihnachtsfeiertage den Besuch des vatikanischen Sozialbeauftragten, Kardinal Konrad Krajewski, wie uns der Provinzvikar der Dominikaner in der Ukraine, Pater Jaroslaw Krawiec, sagt. Auch seine Ordensgemeinschaft sei an den Hilfsangeboten beteiligt:
„Dieses Jahr haben wir in Fastiv, einer Stadt in der Nähe von Kyiv, wo sich unser Kloster, die Pfarrei und das Zentrum für humanitäre Hilfe St. Martin de Porres befinden, Weihnachten auf besondere Weise gefeiert. Was alles noch besser machte, war die Anwesenheit von Kardinal Konrad Krajewski, der sich bereit erklärte, mit uns Weihnachten zu feiern. Als wir in Fastiv waren - einer Stadt mit Strom- und Lichtproblemen wie in vielen anderen Städten und Dörfern - mussten die Generatoren eingeschaltet werden. Wir sind schon daran gewöhnt, aber ich glaube, dass ihm diese Situation geholfen hat, uns alle besser zu verstehen, nicht nur die dominikanischen Patres und Schwestern, sondern vor allem die Menschen, die jeden Tag mit diesen Problemen konfrontiert sind.“
Weihnachten mit dem unerwarteten Gast
An Heiligabend teilte Kardinal Krajewski den Tisch mit den dominikanischen Patres und Freiwilligen, aber auch mit den Flüchtlingen, um die sich die Ordensleute seit Beginn des Krieges kümmern. Später, während der Messe, hielt der Kardinal eine Predigt, die nach Aussage von Pater Jaroslaw die Gläubigen sehr bewegte.
„Er äußerte die Überzeugung“, so der Dominikaner, „dass Jesus, wenn er jetzt geboren worden wäre, hier in der Ukraine geboren worden wäre. Als ich die Anwesenden ansah, sah ich Tränen in ihren Augen: Die Worte des Kardinals hatten die Herzen berührt. Er überbrachte auch Grüße von Papst Franziskus an uns alle und sagte, dass der Heilige Vater uns sehr nahe steht und sich um uns sorgt. Außerdem überreichte er einen Rosenkranz, ein Geschenk des Heiligen Vaters, der an eine der freiwilligen Familien, die im Heim St. Martin de Porres in Fastiv helfen, übergeben wurde.“
Gebet und Nähe
Der Rosenkranz, den Kardinal Krajewski überreichte, solle nicht eine Art Geschenk bleiben oder als Museumsobjekt aufbewahrt werden. „Dies ist ein Geschenk, das uns im Gebet helfen soll“, habe der Kardinal gesagt, und Pater Jaroslaw fügte hinzu, dass die Rosenkränze den Anstoß für eine Gebetsinitiative in der Fastiv-Gemeinde gaben.
Der päpstliche Almosenmeister übernachtete in dem Dominikanerkloster. Pater Jaroslaw erklärt, dass das Gebäude aus kleinen Häusern besteht, die der Gemeinde vor dreißig Jahren von einer polnischen Baufirma geschenkt wurden. Häuser, die anfangs für einen langfristigen Aufenthalt nicht sehr geeignet waren und deshalb renoviert wurden. „Deshalb konnte der Kardinal spüren, dass es ohne Licht schnell kalt und dunkel wird“, erklärte Pater Jaroslaw, der anfügt: „Für uns war es eine große Freude, einen Menschen zu treffen, der den Bedürftigen auf evangelische Weise dient. Es war ein Zeichen der Nähe des Heiligen Vaters.“
Die Kraft zum Weitermachen
Für den Dominikanerpater war der Besuch des Kurienkardinals nicht nur für die Menschen, die die Dominikaner betreuen, wie z.B. Flüchtlinge, sondern vor allem für sie selbst und die Freiwilligen, die ihnen helfen, sehr wichtig und notwendig.
„Es war schön, gemeinsam mit dem Kardinal zu beten“, erzählt er. „Er kam in die Kapelle, setzte sich hin und hörte die Beichte der Gläubigen, unserer Freiwilligen, die vor Weihnachten das Sakrament empfangen wollten: Auf völlig unerwartete Weise bot sich ihnen allen die Gelegenheit, dies mit Kardinal Krajewski zu tun. Das ist sehr wichtig: Menschen, die sich aufopfern, die ihr Leben für andere einsetzen, müssen in ihrem Glauben gestärkt werden. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Unterstützung auf diese Weise kommen würde. Für uns war es ein Zeichen, dass Gottes Gnade mit den Menschen ist, die anderen helfen.“
Hilfe für Menschen, die vor dem Krieg fliehen
Während des gegenwärtigen Krieges helfen die an sechs verschiedenen Orten tätigen Dominikaner in der Ukraine den Menschen auf verschiedene Weise. Dazu gehört auch die humanitäre Hilfe. Am 6. Januar wurde das Haus für vertriebene Familien in Fastiv eröffnet. Es wurde vom apostolischen Nuntius in der Ukraine, Erzbischof Visvaldas Kulbokas, gesegnet.
Pater Jaroslaw berichtet, dass die Ordensleute seit 2019 auf der Suche nach einem Ort waren, an dem sie Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen dienen können, älteren Menschen, Kranken und Armen. Mit Hilfe der örtlichen Verwaltung konnte das Gebäude eines ehemaligen Krankenhauses erworben werden, in dem 2020 die Renovierungsarbeiten begannen. Als der Krieg so vehement ausbrach, wurde schnell klar, dass das Haus für Flüchtlinge genutzt werden würde, da viele Menschen ihre Häuser verloren.
Dank der Hilfe von Wohltätern konnten die Arbeiten im ersten Stock des Gebäudes abgeschlossen werden, so dass fast fünfzig Menschen aus verschiedenen Teilen der Ukraine - aus Bakhmut, Pokrovsk und den Außenbezirken von Kharkiv - untergebracht werden konnten. Die Dominikaner arbeiten weiter daran, die Renovierung von zwei weiteren Stockwerken des Gebäudes so schnell wie möglich abzuschließen und noch mehr Menschen zu helfen und ihnen ein möglichst friedliches Leben zu ermöglichen.
Darüber hinaus bringen die Dominikaner humanitäre Hilfe in die vom Krieg am stärksten betroffenen Gebiete. Vor kurzem besuchten sie Charkiw, Izyum und Balaklien. Mehrere Male fuhren sie nach Cherson. Nach der Befreiung der Gebiete in der Region Kyiv helfen sie aktiv den Bewohnern des Gebietes, das bei Angriffen der russischen Armee zerstört wurde. Fastiv, 70 km südöstlich von Kiew gelegen, blieb dieses Schicksal erspart.
Studium trotz des Krieges
Ein weiterer Dienst, den die Dominikaner in der Ukraine verrichten, sei die Leitung des Instituts für Religionswissenschaften St. Thomas von Aquin in Kyiv: „Ich glaube, dass auch dies eine sehr wichtige Mission ist“, bemerkt der Provinzvikar, dem zufolge „die Aufgabe der Kirche in Kriegszeiten nicht nur darin besteht, zu helfen und humanitäre Hilfe zu leisten, sondern auch zu lehren und Zeugnis von der Wahrheit zu geben“.
Er selbst sei sehr überrascht, dass sich im vergangenen September so viele neue Studenten eingeschrieben hätten, gibt er zu. Einige hätten gesagt: 'Mit Ihrer Hilfe wollen wir verstehen, was jetzt in der Ukraine und in der Welt passiert'. In einem Kriegskontext, so Pater Jaroslaw, sei der Bildungsprozess kompliziert: Der Unterricht finde sowohl online als auch vor Ort statt, so dass auch Studenten, die sich im Ausland befinden, ihr Studium fortsetzen könnten.
Das Institut St. Thomas von Aquin hat derzeit mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie alle anderen Bildungseinrichtungen in der Ukraine: Oft gibt es kein Licht, kein Internet, manchmal können einige Lehrer keine Verbindung herstellen, manchmal verlieren die Schüler ihren Anschluss. „Aber wir versuchen, diese Schwierigkeiten zu überwinden“, versichert Pater Jaroslaw, „es ist wichtig, dass die jungen Leute ihre Ausbildung fortsetzen, denn trotz des Krieges wollen wir auch an die Zukunft denken. Dies ist eine der Antworten unseres Ordens und der katholischen Kirche auf diese Situation.“
Bei den Menschen sein...
„Das Wesentliche ist jetzt, bei den Menschen zu sein: als Brüder, als Priester, als diejenigen, die das gute Wort, das Wort des Evangeliums, Jesus Christus in den Sakramenten der Kirche bringen“, sagt der Priester und fasst damit den Kern ihrer Mission während des Krieges zusammen. „Natürlich ist auch die humanitäre Hilfe wichtig. Wir erhalten viel Hilfe von unseren dominikanischen Brüdern und Schwestern in der ganzen Welt. Sie sehen, dass sie dank uns, die wir hier in der Ukraine sind, den Menschen helfen können, die unter dem Krieg leiden.“
..und allen dienen
In der Ukraine gebe es nur noch wenige Menschen, die sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Für die meisten Ukrainer sei die Erfahrung eines Konflikts dieses Ausmaßes eine völlig neue Erfahrung.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal unter Kriegsbedingungen leben würde“, gesteht Pater Jaroslaw, „aber von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass dies mein Platz ist, auch wenn ich kein Ukrainer, sondern Pole bin. Und so paradox es klingen mag, dieser Krieg hat mich, so könnte man sagen, noch mehr mit der Ukraine verbunden, wo ich meinen Dienst als Dominikaner, als Priester ausübe. Diese Situation wirft natürlich verschiedene Fragen für mich auf, manchmal fühle ich Unsicherheit, Angst vor der Zukunft. Aber auf der anderen Seite spürt man die Gnade Gottes sehr stark, die Kraft, die von ihm kommt.“
Und er fährt fort: „Wenn ich mich und meine dominikanischen Brüder und Schwestern anschaue, sehe ich einen großen Mut, eine große Bereitschaft, einfach da zu sein, zu dienen, sich selbst, sein Leben, seine Zeit, seine Kraft - alles, was wir haben, jenen zu geben, die jetzt in Not sind, unabhängig davon, ob sie Katholiken oder Gläubige sind. Davon sprach auch Kardinal Krajewski, als er zu uns kam und während der Weihnachtsmesse predigte. Er sagte, Jesus rufe allen Menschen zu: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Das heißt, er wendet sich an alle, nicht nur an Gläubige oder Katholiken. Und ich denke, dass unser Dienst als Kirche, besonders jetzt, unter den Bedingungen des Krieges, wirklich auf alle gerichtet sein sollte.“
(vatican news)
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