Schewtschuk: „Erstes Opfer des Hasses ist derjenige, der hasst"
Vatican News: In der Ukraine grüßen sich die Gläubigen zu Ostern mit den Worten „Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden“. Was bedeutet dieser Gruß vor dem Hintergrund des dramatischen Krieges, der seit mehr als einem Jahr andauert?
Großerzbischof Schewtschuk: Ich erinnere mich, dass meine Eltern mir als Kind beigebracht haben, jeden mit diesem Gruß zu grüßen. Zufällig, ohne es zu wissen, grüßte ich einmal einen Vertreter der Kommunistischen Partei, einen militanten Atheisten. „Christus ist auferstanden!“, sagte ich. Erstaunt antwortete er: „Ja, ja, sie haben mich informiert“. Diese Antwort trage ich in meinem Herzen, und im Zusammenhang mit dem Krieg verstehe ich sie immer besser: Es ist eine Sache, von der Auferstehung Christi ,informiert‘ zu werden, eine andere ist es, diese Botschaft durch die eigene Lebenserfahrung zu verifizieren. Wahrhaftig auferstehen heißt, sich zum christlichen Glauben zu bekennen, aber auch zu sagen, dass diese Wahrheit der gelebten Erfahrung entspricht. Nun glaube ich, dass wir in der Ukraine wirklich die Gegenwart des Auferstandenen unter uns erfahren.
Leid löst existenzielle Fragen aus
Vatican News: Wie wird diese Heilsbotschaft von den Menschen, von den Gläubigen aufgenommen? Gibt es inmitten von so viel Schmerz, so viel Tod und Zerstörung Menschen, die den Glauben verloren haben?
Schewtschuk: Ich würde sagen, im Gegenteil, die unmittelbare Erfahrung des Todes für viele Menschen, die Konfrontation mit dieser Katastrophe, führt zur Umkehr. In der Ukraine erleben wir wirklich eine große Zeit der Gottsuche. Man sagt, dass an der Front sogar Atheisten für die Soldaten beten, und wenn sie von den Kämpfen zurückkehren, suchen sie einen geistlichen Begleiter, mit dem sie ihre Erfahrungen teilen können. Dieser Schmerz, dieses Leiden löst existenzielle Fragen aus, nicht nur nach dem Sinn des Leidens, sondern auch nach dem Tod. Und die christliche Botschaft ist wirklich die Quelle der Hoffnung, denn wir haben eine Perspektive für das Leben nach dem Tod. Eine größere, umfassendere, weitere Perspektive des Lebens, die uns die innere Kraft gibt, weiter aufzubauen, während jemand jeden Tag zerstört; weiter zu heilen und Wunden zu heilen, während jemand sie uns jeden Tag zufügt. Auch weiter zu hoffen, während jemand sagt, dass wir keine Hoffnung mehr haben.
Ich glaube, dass wir in der Ukraine wirklich die Gegenwart des Auferstandenen unter uns erleben, denn es ist jetzt ein Jahr her, dass wir nicht existieren sollten... Aber wir leben noch und können der ganzen Welt von Kiew aus bestätigen, dass Christus auferstanden ist, wirklich auferstanden ist“, bekräftigt der Großerzbischof im Gespräch mit Vatican News. Es sei bereites „unser zweites Ostern, das wir dieser Aggression widerstehen. Wir haben Hoffnung. Eine Hoffnung, die über den menschlichen Horizont hinausgeht...
Pastorale Umkehr
Vatican News: Welche Auswirkungen hatte der Krieg auf alle Priester und auch auf die Beziehungen zwischen Ihnen als Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche und dem Klerus?
Schewtschuk: Der Krieg hat uns zu einer echten und authentischen pastoralen Umkehr geführt. Die Priester sind nicht länger eine soziale Elite, eine Kaste von Unberührbaren. Der Priester ist derjenige, der von seinem Podest herabsteigen und sich vor die Verwundeten knien muss, der diejenigen trösten muss, die den Tod ihrer Angehörigen betrauern. Diese pastorale Umkehr offenbart eine Dimension des Priesters, der ein Diener ist, wie Christus sagte. Für mich als Bischof war diese Zeit eine Zeit der Nähe zu den Priestern. Denn sie sind ja den leidenden Menschen nahe, aber ich muss meinen Priestern nahe sein. Sie heilen die Wunden der Menschen, aber ich muss ihre Wunden heilen, ich muss ein Vater sein, wenn sie sich ,ausgebrannt‘, müde fühlen, sie auf meine Schultern heben, um ihnen Ruhe und Mut zu geben. Diese Gemeinschaft der Kirche, zwischen den Priestern und den Gläubigen, zwischen den Priestern und dem Presbyterium, zwischen dem Bischof und seinen Priestern, ist das Geheimnis des Widerstands, der Stärke unserer Kirche unter diesen Bedingungen.
Frauen tragen Last des Krieges
Vatican News: Sprechen wir von den Frauen. Ihnen ist der auferstandene Christus zuerst offenbart worden. Welche Rolle spielen die Frauen in der Ukraine, insbesondere innerhalb der Kirche, in diesen dramatischen Zeiten?
Schewtschuk: Die Frauen sind derzeit die Mehrheit in unseren Gemeinden, denn es gibt Dörfer, in denen es keine Männer mehr gibt. Sie sind alle an der Front und kämpfen... Die Frauen sind also diejenigen, die die Last dieses Krieges auf ihren Schultern tragen. Mit Freiwilligenarbeit, mit humanitärer Hilfe... In unserer Kirche waren Frauen immer die ersten Verkünderinnen des christlichen Glaubens in den Familien und Gemeinden. Fast 99 Prozent unserer Katecheten sind Frauen, und 90 Prozent unserer Geistlichen sind verheiratet, und die Rolle der Ehefrau des Pfarrers in der Gemeinde ist ebenfalls sehr wichtig. Wir haben Frauen, die wirklich sehr kultiviert, gebildet und intelligent sind, die in den verschiedenen Bereichen des kirchlichen Lebens arbeiten und die einen wichtigen Beitrag zu den Entscheidungsmechanismen leisten.
Vatican News: Kann man also sagen, dass die Frauen diejenigen sind, die die Ukraine in dieser Kriegssituation unterstützen?
Schewtschuk: Auf jeden Fall... Die Frauen sind das Bild der Ukraine: das Bild einer Mutter, die um ihr Kind trauert, oder einer Braut, die auf die Rückkehr ihres Mannes hofft. Sie sind die Ikone der Ukraine.
Gefährliche Gewöhnung an den Krieg
Vatican News: Haben Sie in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten die Gefahr der Gleichgültigkeit oder der Gewöhnung an das Leiden angeprangert? Besteht diese Gefahr immer noch? Was kann man tun, um ihr zu begegnen?
Schewtschuk: Ja, es ist eine große Gefahr, denn jeden Tag fallen Bomben, aber diese Bomben schrecken nicht mehr. Auch der Schrecken des Todes erschreckt nicht mehr. Das ist eine Frage der menschlichen Psychologie: Gleichgültigkeit verteidigt die grausame Realität. Aber diese Gleichgültigkeit kann sehr gefährlich sein, denn das Herz verkümmert, es ist nicht mehr in der Lage, mit den Leidenden mitzufühlen, und der Schrei derer, die in höchster Not sind, wird nicht mehr gehört. Was ist zu tun? Für uns Christen gilt es, auf das Wort Gottes zu hören, unsere christliche Frömmigkeit zu praktizieren und zu beten. Das Gebet, die Sakramente und das Hören auf das Wort Gottes helfen uns, nicht in die Hände der Gleichgültigkeit zu fallen.
Vatican News: Und diejenigen, die nicht über die Mittel des Glaubens verfügen, wie gehen sie mit diesem Schrecken um, der sogar Kriegsverbrechen zu normalisieren scheint?
Schewtschuk: Ich sehe, dass diejenigen, die nicht den christlichen Glauben haben, nach jemandem suchen, der Gewalt oder Hass legitimiert. Es ist sehr gefährlich, wenn man Gewalt aus religiöser oder christlicher Sicht rechtfertigt, denn dann wird die Lawine der Rache wirklich unaufhaltsam. Und Hass verbrennt wirklich die Seele. Das erste Opfer des Hasses ist derjenige, der hasst. Wir versuchen, den Hass nicht auf den Feind zu lenken. Wir sind nicht die Anführer, die Gewalt segnen, anders als wir es von russischer Seite hören. Nicht jeder versteht uns.... Wir sehen nicht nur, dass der christliche Glaube eine Kraft ist, sondern auch, dass er etwas ist, das Horizonte öffnet, das uns Leben gibt, um unter diesen Bedingungen zu überleben. Hass und Gewalt zerstören hingegen.
Hintergrund
Die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine, die größte „Kirche eigenen Rechts"“ in Gemeinschaft mit dem Papst, feiert Ostern nach dem julianischen Kalender, auch wenn sie kürzlich ihren Kalender reformiert hat und feste Feiertage wie Weihnachten nach dem gregorianischen Kalender feiert.
Das Telefoninterview mit Großerzbischof Schewtschuk wurde am Vortag des Osterfestes geführt; die Fragen stellte Salvatore Cernuzio von Vatican News.
(vatican news – pr)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.