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Beklemmende Situation vor allem für Frauen in Afghanistan Beklemmende Situation vor allem für Frauen in Afghanistan  (AFP or licensors)

Afghanistan: „Mit Taliban ins Gespräch kommen“

Frauen im Taliban-Staat Afghanistan leiden unter massivsten Einschränkungen. Wie Hilfsarbeit dennoch möglich ist und wie wichtig es ist, den Gesprächsfaden zu den Machthabern nicht abreißen zu lassen, betont die Afghanistan-Referentin von Misereor, Anna Dirksmeier, im Interview mit Radio Vatikan.

Im Emirat Katar hat an diesem Dienstag eine zweitägige Afghanistan-Konferenz der Vereinten Nationen begonnen. Bei dem Treffen, zu dem keine Taliban-Vertreter eingeladen sind, geht es um eine einheitliche Linie der Staaten gegenüber dem Taliban-Regime und die Frauen- und Menschenrechtslage vor Ort.

Auf „Heim und Hof“ zurückgeworfen

Die Misereor-Referentin für Afghanistan, Anna Dirksmeier, sieht die Konferenz als wichtigen Schritt. Sie betont im Interview mit Radio Vatikan aber auch, dass es notwendig sei, dass Gespräch zu den Machthabern in Afghanistan zu suchen, um das Leiden der Frauen und der Lokalbevölkerung zu lindern. Radio Vatikan wollte von Dirksmeier zunächst wissen, wie es den Frauen in Afghanistan aktuell geht.

Dirksmeier (Misereor-Referentin für Afghanistan): Die Lage der Frau ist außerordentlich schwierig. Das bedauern wir sehr. Frauen sind praktisch zurückgeworfen worden auf Heim und Hof. Das heißt, sie sollen in der Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle mehr spielen. Das geht einher mit Berufsverboten. Das geht auch damit einher, dass Frauen ohne den Mahram nicht raus drüfen. Das ist ein männlicher, älterer Aufpasser, ein männliches Familienmitglied, das die Frauen begleiten muss, wenn diese das Haus verlassen wollen.
Auch im Bereich Bildung: Früher stand den Frauen alles offen. Jetzt ist es so, dass Frauen mit Uniabschlüssen untätig zu Hause sitzen. Dass Mädchen ab der sechsten Klasse daran gehindert werden, in den meisten Regionen, am Schulunterricht weiterführender Schulen teilzunehmen .Das heißt, die Grundrechte von Frauen sind erheblich eingeschränkt.

Frauen in Afghanistan: wie aus dem Schattendasein ausbrechen?
Frauen in Afghanistan: wie aus dem Schattendasein ausbrechen?

Frust und Langeweile

Radio Vatikan: Wie gehen die Frauen damit um?

Dirksmeier: Also einmal haben wir Frustration als Reaktion. Was ich interessant fand, das ist nicht nur die Rechtlosigkeit, sondern oder auch die Infantilisierung der Frauen, dass sie praktisch wie Kinder behandelt werden, die nicht mehr alleine nach draußen gehen dürfen. Aber die Frauen selber sagen eben auch, was ganz, ganz schlimm sei: die unendliche Langeweile. Also sie sind es ja gar nicht gewöhnt, abgeschnitten zu sein von der Gesellschaft. Natürlich wird versucht, sie auch noch online zu erreichen. Aber auch Internetzugang ist wegen der Stromausfälle manchmal nur zwei, drei Stunden am Tag möglich. Und was den Frauen fehlt, ist eine echte Perspektive.

Radio Vatikan: Man hört vereinzelt von Frauen, die sich organisieren, auch im Untergrund, etwa heimlich eine Schule zu Hause einrichten. Wie häufig sind solche Beispiele?

Dirksmeier: Diese Beispiele gibt es auch. Wir als Misereor können Projekte mit Frauen in Afghanistan auch weiter durchführen. Das liegt einfach daran, dass die Taliban untereinander zerstritten sind und keine einheitliche Meinung haben. Wer sich bisher lautstark durchgesetzt hat, ist der Mullah, der Emir, der praktisch das Staatsoberhaupt ist, weil sich gegen seine Meinung auch niemand offen stellt. Aber unter der Hand lassen viele Taliban-Führer in ihren Regionen eben doch zu, dass die Frauen weiterhin Schulen besuchen. Von gut 30 Provinzen konnten immerhin in neun Provinzen die Mädchen weiter zur Schule gehen.
Wir können natürlich nicht sagen, ob das in Zukunft auch noch so sein wird oder ob die Hardliner gegenüber den etwas fortschrittlicher Gestimmten hart durchgreifen und in Zukunft kontrollieren werden, ob die Frauen sich tatsächlich nach diesen extremen Vorgaben richten oder nicht. Aber wir vermuten, dass es eher so eine Art Stillhaltepolitik ist, dass also die lokalen Taliban eben doch einen gewissen Spielraum ausschöpfen können. Auch wenn sie es nicht an die große Glocke hängen können, einfach weil die Taliban nicht als zerstritten nach außen auftreten möchten.

Bei Hilfsarbeit Lücken nutzen und flexibel sein

Radio Vatikan: Wie nutzen Hilfsorganisationen und auch Misereor also solche Lücken, um doch tatsächlich auch noch Hilfsprojekte voranzutreiben?

Dirksmeier: Ja, Misereor ist da sehr flexibel. Das heißt zum Beispiel, dass wenn es in einer Region sehr, sehr schwierig ist, mit den Taliban vor Ort zu verhandeln, die Projektpartner aus dieser Region herausgehen und ihre Arbeit in anderen Regionen beginnen, wo dies noch möglich ist. Das ist zwar sehr traurig für die Regionen, die sie dann verlassen müssen, aber zumindest können auf diese Art und Weise eben immer noch Frauen erreicht werden.

Radio Vatikan: Zuletzt haben die Taliban Frauen ja auch die Mitarbeit in Hilfsorganisationen verboten, in UNO-Hilfsorganisationen. Warum und welche Folgen hat das gehabt?

Dirksmeier: Es handelt sich um ein Dekret, was noch nicht in ein Gesetz gegossen wurde, aber eben dennoch als Verordnung gilt. Und dessen Umsetzung wird zum Beispiel auch bei den Nichtregierungsorganisationen, die vor Ort operieren, auch kontrolliert. Was dahinter steckt ist wieder, dass die Frauen nicht in der Öffentlichkeit tätig sein dürfen. Und die Taliban haben dieses Verbot damit begründet, dass sie sagen, dass in vielen NGOs und eben auch in den UN-Strukturen natürlich im Team gearbeitet wird. Und das bedeutet, dass eine strikte Geschlechtertrennung nicht möglich ist, die sie aber vorschreiben.
In den Grundschulen (die für Mädchen noch erlaubt sind, Anm. d. Red.) wird das etwa so geregelt, dass die Mädchen und Jungen getrennt zur Schule gehen, also entweder nachmittags oder vormittags. Oder dass zumindest die Klassenräume klar getrennt sind und die Mädchen eben auch nur von weiblichen Lehrkräften und die Jungen nur von Lehrern unterrichtet werden. Eine solch strikte Geschlechtertrennung lässt sich natürlich in NGOs oder auch in UN-Verbänden sehr schlecht durchsetzen, weil man sich ja im Team über die Hilfsmöglichkeiten abstimmt.

Frauen wird Hilfsarbeit unterbunden - fatale Langzeitfolgen

„Am Ende, wenn diese Politik nicht aufgeweicht wird, wird es eine erheblich höhere Mütter- und Kindersterblichkeit geben.“

Radio Vatikan: Es ist ja sehr wichtig, dass auch lokale Kräfte eingebunden werden in die Hilfsarbeit. Was hat es für Folgen, wenn diese so wichtige Mitarbeit von Frauen in Afghanistan so eingeschränkt wird?

Dirksmeier: Das hat gravierende Folgen! Diese Hardliner-Mentalität der strikten Geschlechtertrennung, die kommt nicht nur von den Taliban, sondern sie ist auch in weiten Teilen der Bevölkerung verwurzelt. Also die letzten 20 Jahre der NATO-Interventionen in dem Land haben zwar kurzfristig einen Demokratieaufbau gebracht, aber letztlich konnten die ländlichen Bevölkerungsgruppen kaum erreicht werden. Das heißt, es hat dort ein Frauenbild auch vorher vorgeherrscht, das patriarchal geprägt war. Dass also die Frauen von sich aus, vor allem in der Volksgruppe der Paschtunen nicht erlauben, dass sie von Männern gesehen, angefasst oder ihnen auch nur Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, der Kontakt von Frauen kann nur über Frauen erfolgen. Und das hat natürlich auch gerade für den medizinischen oder gesundheitlichen Bereich insgesamt gravierende Folgen. Wenn jetzt also Frauen nicht mehr ihre höhere Bildung erreichen und auch nicht mehr als Ärztinnen dann arbeiten können, können sie eben auch nicht Frauen behandeln, so dass also am Ende, wenn diese Politik nicht aufgeweicht wird, es eine erheblich höhere Mütter- und Kindersterblichkeit geben wird.

Was die UNO-Hilfspakete betrifft: Die Bevölkerung leidet zu über 90 Prozent, ist extrem arm, und das Land ist massiv auf ausländische Hilfsgüter angewiesen. Und das bedeutet eben, dass selbst Nothilfe die Frauen nicht erreichen kann. Es gibt ja zum Beispiel ganz viele alleinerziehende Frauen, die Kriegswitwen sind. Die können dann, wenn nur Männer in den UNO-Organen arbeiten dürfen, gar nicht mehr die Hilfspakete in Empfang nehmen. Also das ist schon eine große Tragödie, wenn man jetzt über Perspektiven spricht für das Land, für diese Menschen.

Der stellvertretende Minister für Flüchtlinge der Taliban-Regierung, Mohammad Arsala Kharoti (Mitte), vor Medienvertretern in Kabul. Daneben die stellvertretende UNO-Generalsekretärin und stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin Gillian Triggs (links) am 30. April auf dem Flughafen in Kabul
Der stellvertretende Minister für Flüchtlinge der Taliban-Regierung, Mohammad Arsala Kharoti (Mitte), vor Medienvertretern in Kabul. Daneben die stellvertretende UNO-Generalsekretärin und stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin Gillian Triggs (links) am 30. April auf dem Flughafen in Kabul

Mit den Taliban ins Gespräch kommen

„Es ist nicht von Nutzen, wenn man den Taliban mit Maximalforderungen begegnet. Verhandeln bedeutet immer aufeinander zugehen, auch wenn das zum Teil Schritte sind, die wir mit unserem Selbstverständnis schlecht vereinbaren können.“

Radio Vatikan: Was kann denn die UNO-Konferenz in Katar aktuell vor diesem sehr bedrückenden Hintergrund bringen?

Dirksmeier: Also erst einmal freuen wir uns außerordentlich, dass die Gespräche mit den Taliban auf dieser Art und Weise… - oder hier ist es ja eher ein Sprechen über die Taliban, aber folgen muss eben der Schritt, dass auch mit den Taliban der Gesprächsfaden wieder aufgenommen werden muss. Misereor hat sich immer dafür eingesetzt, dass es ganz, ganz wichtig ist, einen Fuß in der Tür zu halten. Das heißt, dass wir nicht mit unseren Projekten rausgehen und das Land nicht allein lassen. Auch wenn wir natürlich die Zähne manchmal zusammenbeißen müssen, weil wir sagen, das entspricht nicht unserem Selbstverständnis und der selbstverständlichen Geschlechtergerechtigkeit, aber dennoch bleiben wir im Land drin. Und darüber zu verhandeln, wie geht man künftig mit den Taliban um, wie es derzeit in Katar passiert - das sind sehr, sehr wichtige Gespräche. Also von daher sehen wir die Konferenz sehr positiv und sind gespannt, was am Ende erreicht wird.

Wichtig ist allerdings auch, direkt mit den Taliban ins Gespräch zu kommen und ihnen eben auch die Konsequenzen ihres eigenen Handelns vor Augen zu führen. Ich denke, dass man da sehr auf Gesichtswahrung achten muss. Es ist nicht von Nutzen, wenn man den Taliban mit Maximalforderungen begegnet oder ihnen praktisch gar keinen Ausweg mehr lässt. Verhandeln bedeutet immer aufeinander zugehen, auch wenn das zum Teil Schritte sind, die wir mit unserem Selbstverständnis schlecht vereinbaren können. Aber es geht darum, jeden noch so kleinen Spielraum zu erhalten und zu erweitern. Nur so können wir langfristig der afghanischen Bevölkerung helfen. Und deshalb, denke ich, ist es sehr wichtig, dass man wertschätzend, gesichtswahrend in diese Gespräche geht. Immer im Hinterkopf, was man für die Bevölkerung erreichen möchte.

Interview in voller Länge mit Anna Dirksmeier (Misereor). Fragen: Anne Preckel (Radio Vatikan)

(vatican news – pr)
 

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02. Mai 2023, 14:26