Haiti: „Gewalt wird nicht das letzte Wort haben“
Jean-Charles Putzolu und Christine Seuss - Vatikanstadt
Bewaffnete Banden, die vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince und in anderen städtischen Gebieten marodieren, sind zu einem großen Problem in Haiti geworden. Dabei schrecken die Gangs vor kaum einem Verbrechen zurück, sie sind an kriminellen Aktivitäten wie Erpressung, Drogenhandel und Entführungen gegen Geld beteiligt, besetzen ganze Stadtviertel und machen auch vor brutalen Morden an Zivilisten nicht Halt. Die Lage ist so ernst, dass sich die Vereinten Nationen für die Entsendung einer internationalen Truppe einsetzen. Der Sicherheitsrat hatte erst Anfang Mai nach einer Sitzung zur Situation in Haiti große Sorgen über die sich verschlechternde Sicherheits- und humanitäre Lage im Land formuliert, kann sich aber nach wie vor nicht auf die Entsendung einer internationalen Truppe einigen.
In der Zwischenzeit wird die haitianische Bevölkerung allein gelassen. Angesichts der Gewalt und der Unfähigkeit der Polizeikräfte organisieren sich die Haitianer mittlerweile in Bürgerwehren. Eine gefährliche Situation für Bischof Pierre André Dumas, den haitianischen Bischof von Anse-à-veau: „Es herrscht eine Gewalt, die alle Schichten und Bereiche der Bevölkerung betrifft, und es sind die Ärmsten, die die Folgen zu tragen haben“, erklärt er im Gespräch mit Radio Vatikan. Auf Ebene der Ortskirche versuche man, für die Menschen da zu sein, Ruhe auszustrahlen, ihnen Zuversicht zu geben: „Die Gewalt wird nicht das letzte Wort haben. Wir arbeiten daran, dass es viele Orte des Zuhörens, des Teilens und des Dialogs gibt und dass die Menschen wieder Vertrauen fassen.“
Warnung vor Selbstjustiz
Die Banden, die die Menschen terrorisieren, können dabei auf „rechtsfreie Räume“ zählen: Viertel, in denen sie unbehelligt den Ton angeben und teils auch Kinder zwangsrekrutieren, erzählt der Kirchenmann. Doch die Situation kippe gerade in eine andere Richtung: „Jetzt gibt es eine Reaktion der Bevölkerung. Gangmitglieder beginnen sich zu fürchten und es heißt, dass die Unsicherheit die Seiten gewechselt hat. Allerdings darf es auch nicht dazu kommen, dass wir in eine chaotische, anarchische Situation abrutschen. Die Polizei hat eine sehr wichtige Rolle zu spielen, um zu zeigen, dass der Staat organisiert ist.“
Die Kirche wiederum versuche dafür einzustehen, dass die Menschen einander als Geschwister wahrnähmen, das Geschwisterlichkeit wirklich gelebt werde und nicht nur eine Worthülse bleibe: „Und vor allem sollte man nicht zur Selbstjustiz schreiten.“
Kinder in die Gewalt getrieben
Eine wichtige Rolle spielten die Familien, die ihre Kinder von Anfang an davor schützen müssten, in die Fänge von gewaltbereiten kriminellen Banden zu geraten: „Wir sind an diesem Punkt angelangt, weil wir lange Zeit Kinder hatten, die auf der Straße ausgesetzt wurden, die in der Wildnis ausgesetzt wurden, die allein und ohne Familie lebten. Manchmal hat die extreme Armut, Familien dazu gebracht, Kinder auszusetzen. Und es waren diese Kinder, an die Politiker Waffen verteilten. Diese Jugendlichen haben zu den Waffen gegriffen, sind erwachsen geworden und wenden sich von diesen Politikern ab, weil sie denken, dass sie auf eigene Faust Geld verdienen können. Also entführen und verschleppen sie Menschen, um Lösegeld zu erpressen, und um bezahlt zu werden, wenden sie viel Gewalt an. Es kommt vor, dass sie Menschen foltern. Ich denke, dass Familienwerte, die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Menschen und die ganzheitliche menschliche Entwicklung des Landes helfen können, dieses Problem ein wenig zu lösen.“
Doch die staatlichen Autoritäten kämpfen selbst mit einer Reihe von Problemen. Die politische Instabilität hat auch zu einem Zusammenbruch des Tourismus geführt – eine bedeutende Einnahmequelle für den Inselstaat. Und so fehlen nun die Mittel, um die zahlreichen Probleme adäquat anzugehen.
„Ich denke, dass man das haitianische Volk jetzt stärker begleiten muss, nicht an seiner Stelle entscheiden, und dass man dafür sorgen muss, dass die Lösungen von innen kommen. Die Menschen müssen Verantwortung für sich selbst übernehmen, Protagonisten ihrer eigenen Geschichte werden und akzeptieren, dass sie den Weg für die kommenden Generationen ebnen müssen. Jedes Mal, wenn eine Lösung von anderswo aufgezwungen wird, hält sie eine Zeit lang an, und dann tauchen die ursprünglichen Probleme wieder auf.“
Internationale Eingreiftruppe im Gespräch
Allerdings ist die aktuelle Situation so ernst, dass auch eine Internationale Eingreiftruppe in Erwägung gezogen wird. So forderte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, erst jüngst nach einem Massaker an Zivilisten in Port-au-Prince im April eine internationale Intervention - eine Forderung, die er bereits im Oktober 2022 in einem Brief an den UN-Sicherheitsrat formuliert hatte.
„Die Vereinten Nationen wissen bereits, was zu tun ist, und sie wissen, dass Haiti allein nicht in der Lage sein wird, zu einer Lösung zu kommen“, meint dazu Bischof Dumas. Doch gleichzeitig könne man nicht einfach „jede beliebige Art von Intervention“ durchführen, gibt er zu bedenken: „Man muss die Polizei wirklich begleiten, konsolidieren, professionalisieren und reformieren und dafür sorgen, dass sie viel effizienter arbeitet. Es muss gehandelt werden. Es steht mir nicht zu, Ja oder Nein zu einer internationalen Truppe zu sagen. Aber ich denke, man hat das Recht, die Bevölkerung konkret zu begleiten, ihr zu helfen, Lösungen zu finden und dafür zu sorgen, dass die Nationen sich darauf einigen können, einen Ausweg zu finden und es Haiti zu ermöglichen, wieder auf die Beine zu kommen, sich zu stabilisieren, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und gleichzeitig diesem Volk zu helfen, die Würde wiederzufinden, die es einst hatte; diesem Volk, das der Welt geholfen hat, das Problem der Sklaverei zu beenden.“
(vatican news - cs)
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