Radio-Akademie: Polen – Kirche im Umbruch (4)
Polen war einst, vor dem Zweiten Weltkrieg, das Zuhause für Europas bei weitem größte jüdische Gemeinde. In Warschau machten die Juden an die dreißig Prozent der Bevölkerung aus. Das sollte man wissen, wenn man heute vom katholischen Polen spricht. Die katholische Kirche versucht inzwischen, an das jüdische Erbe in Polen zu erinnern und die während der deutschen Besatzung brutal zerrissenen Fäden wieder aufzunehmen und weiterzuspinnen.
Polens Kirche will auf Judentum zugehen
In Lublin, einer Stadt im Osten Polens, haben fünf Universitäten ihren Sitz, darunter Polens Katholische Universität. Seit Herbst 2022 gibt es an dieser katholischen Universität ein neues Institut, das sich um katholisch-jüdische Beziehungen kümmern soll: das „Abraham J. Heschel Center“. Als Pater Miroslaw Wróbel, der Leiter des Heschel-Zentrums, uns empfängt, wissen wir noch nicht, dass ausgerechnet hier, in seinem Büro, die Nazis einst die „Aktion Reinhard“ geplant haben – die Ermordung von fast zwei Millionen Juden sowie von Roma in KZs wie Treblinka oder Majdanek. Von diesem Zimmer ging die wohl schlimmste Vernichtungsaktion der Nazis aus, und von hier sollen jetzt die katholisch-jüdischen Beziehungen neuen Schub bekommen.
„Das Heschel-Zentrum wurde gegründet, um die Beziehungen der katholischen zur jüdischen Welt lebendiger und auch bewusster zu machen“, erklärt uns Pater Wróbel. „Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier in Polen viele jüdische Menschen; in Lublin zum Beispiel stellten sie etwa die Hälfte der Bevölkerung! Es ist also sehr wichtig für uns, nicht nur an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern, sondern auch an die Zeit davor, an viele hundert Jahre der Koexistenz. Dabei setzen wir auf Forschung, Bildung und Erziehung. Wir werden also historische Studien zu Polen jüdischer Herkunft durchführen, die viel für die polnische Kultur getan haben, dann aber in Vergessenheit geraten sind. Wir wollen Kontakte zu Unis und Lehreinrichtungen auf der ganzen Welt herstellen; jetzt haben wir zum Beispiel Beziehungen zum lateinamerikanischen Rabbinerseminar in Buenos Aires geknüpft.“
Auch zu Unis in Berlin, Boston oder Los Angeles hat das „Heschel Center“ schon seine Fühler ausgestreckt. Es geht ihm aber nicht nur um ein akademisches Netzwerk, sondern es will auch die „jüdischen Gemeinden, die dafür offen sind“, erreichen. Dabei fühlt es sich dem Dokument „Nostra Aetate“ verpflichtet, mit dem das Zweite Vatikanische Konzil den Kontakt zum Judentum zu einer wichtigen Priorität der Kirche erklärte, sagt Wróbel. „Das ist sehr wichtig: ein Dialog, der nicht von Ressentiments gegenüber der jüdischen Gemeinschaft geprägt ist. Es geht darum, dass wir versuchen, zu verstehen und zusammenzuarbeiten.“
Wo einst das jüdische Viertel lag, gähnt heute ein Parkplatz
Nun gibt es allerdings in Lublin buchstäblich fast keine Juden mehr; wo einmal das jüdische Viertel lag, gähnt heute ein Parkplatz. Doch von diesem Einwurf lässt sich Wróbel nicht aus dem Konzept bringen. „Ja, wir kennen nur noch etwa dreißig Personen, die hier in Lublin gelebt haben – aber wir haben sehr guten Kontakt zu ihnen! Es gibt in Lublin eine Jeschiwa, die vor dem Zweiten Weltkrieg ein bedeutendes Zentrum für jüdische Studien war (heute ist sie ein Museum). Und auch die kleine jüdische Gemeinde in Lublin ist sehr froh über die Kontakte mit uns: Wir haben zum Beispiel an der Katholischen Universität einen ‚Tag des Judentums‘ organisiert, und dazu sind viele von ihnen gekommen; außerdem haben wir zum ersten Mal in der Geschichte unserer Universität ein Chanukka-Fest organisiert, auch daran haben Leute mit jüdischem Hintergrund teilgenommen. Es war wirklich wunderbar!“
Das Büro, in dem der Holocaust geplant wurde
Schon erstaunlich, wie die polnische Kirche auf das Judentum zugeht. Das sendet auch starke Signale in die Gesellschaft des Landes hinein. Sie wirkt innerlich zerrissen, gespalten zwischen zwei politischen Lagern, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Dabei tobt auch ein Streit über die Geschichte Polens, und wie sie zu interpretieren ist. Gerade das Verhältnis der Polen zu den Juden (während des Zweiten Weltkriegs,aber auch davor und danach) ist in der polnischen Öffentlichkeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen; immer wieder kommt es zu populistischen, sogar zu antisemitischen Tönen.
Am meisten gibt aber zu denken, dass die Offensive, mit der die polnische Kirche sich zum Judentum hin öffnet, genau von dem Ort in Lublin ausgeht, an dem die Nazis zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 ihr Todeswerk planten. „In diesem Zimmer – in diesem Zimmer hatte der Leiter dieser Aktion, SS-Führer Odilo Globocnik, sein Büro! Und genau unter uns, in der Halle, hielten die Nazis ihre Konferenzen, bei denen sie über die Ausrottung des jüdischen Volkes berieten. Darum sehen wir es auch als unsere Aufgabe an, der Opfer zu gedenken. Dazu bringen wir junge Leute, auch mit deutschem und mit jüdischem Hintergrund, zusammen. Gleichzeitig wollen wir aber auch die Gegenwart und die Zukunft im Blick haben.“
Freundschaften schließen mit den Besuchern der KZs
Viele jüdische Gruppen aus dem Ausland, vor allem aus Israel, kommen nach Lublin, um das frühere Vernichtungslager Majdanek zu besuchen. Wróbel und seine Leute wollen auch auf diese Besucher zugehen. „Ja, wir bemühen uns darum, und mittlerweile sind wir auch mit den Organisatoren der jüdischen Gruppen im Gespräch, ob man nicht gemeinsam etwas machen könnte, denn bis jetzt konzentrieren sie sich nur auf die Konzentrationslager. Sie waren bislang eher verschlossen und brachten aus Israel eigene Sicherheitskräfte mit, weil sie den Polen nicht so trauten. Wir möchten das ändern und Treffen zwischen diesen Menschen und jungen Leuten aus Polen organisieren, um gemeinsam Musik zu machen, ins Restaurant zu gehen, Freundschaften zu schließen, über Literatur und Kultur zu sprechen. Um ihnen die Augen zu öffnen, dass wir keine Feinde sind, dass wir nicht antisemitisch sind. Dass wir offen sind und menschlich. Dass wir voreinander keine Angst zu haben brauchen.“
Die Bibel durch die jüdische Brille lesen
Das „Heschel Center“ wird sich auch im Bereich der Biblischen Studien engagieren; hier will es Anziehungskraft auf Studierende aus ganz Mittel- und Osteuropa ausüben. Lublin soll längerfristig, neben Rom und Jerusalem, zum dritten großen katholischen Player in Sachen Biblische Studien werden. Wróbel leitet die Biblische Fakultät an der Katholischen Uni Lublin. Sein Ansatz: Die ganze Bibel, das Alte wie das Neue Testament, aus einer „jüdischen Perspektive“, von einem „jüdischen kulturell-religiösen Hintergrund her“ zu lesen.
„Ja, das würden wir gerne! Wir haben hier in Lublin 2014 ein spezielles Projekt gestartet, nämlich die aramäische Bibel. Das ist die Veröffentlichung eines Manuskripts aus der vatikanischen Bibliothek in aramäischer Sprache – eine wunderbare Quelle. Und wir, die katholischen Gelehrten, möchten sie auch in Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten in polnischer Sprache veröffentlichen. Das ist ein erstes Unternehmen dieser Art. Solche Studien sind sehr fruchtbar für unsere Kommunikation und auch für unser Verständnis der jüdischen Exegese.“
Aber es geht auch eine Schuhnummer kleiner: Das „Heschel Center“ bietet Kurz-Erläuterungen zu den Lesungen und Evangelien jedes Sonntags an, die den jüdischen Kontext mitberücksichtigen und von Pfarreien und interessierten Katholiken in ganz Polen genutzt werden können. Jüdisches Denken – und wie eng es mit dem katholischen Glauben verbunden ist – wird so auch dem Laien deutlich.
„Das ist sehr wichtig für uns – denn wir haben zusammengelebt!“, sagt Pater Wróbel. „Wir haben viele Dichter, viele Kulturschaffende, die Juden waren und uns wunderbare Kunstwerke geschenkt haben. Und natürlich lesen viele Katholiken hier jeden Sonntag die Lesungen aus dem Alten Testament. Es ist also auch für sie sehr wichtig, diese jüdische Bibel aus dem Kontext der jüdischen Kultur zu erklären. Auch unsere Kommentare zu den Evangelien aus jüdischer Perspektive werden gerade von einfachen Leuten sehr gut aufgenommen; hier wird die Bedeutung des Wortes Gottes aus einer neuen Perspektive deutlich.“
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(vatican news)
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