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Die vandalisierte chaldäische Al-Tahira-Kirche in Mossul nach dem Abzug der IS-Terroristen im April 2018 Die vandalisierte chaldäische Al-Tahira-Kirche in Mossul nach dem Abzug der IS-Terroristen im April 2018  

Islamischer Staat: Was ist von der Terrorgruppe noch übrig?

Im Oktober 2017 fiel Rakka, die Hochburg des „Islamischen Staats“, und der Westen jubelte angesichts der offensichtlichen Niederlage der Vereinigung, die unsägliche Gräuel verübt hatte und mit dem Anspruch angetreten war, ihre Schreckensherrschaft über weite Territorien auszudehnen. Doch ist der IS (oder Daesh, wie er in arabischen Ländern genannt wird) wirklich besiegt?

Marine Henriot und Christine Seuss - Vatikanstadt

Die jüngste Razzia, bei der in Deutschland zahlreiche IS-Unterstützer festgenommen wurden, lässt daran zweifeln. Was die Entstehung der Terrorgruppe begünstigt hat und wie sie sich derzeit neu erfindet, darüber sprachen wir mit einer Expertin: Myriam Benraad ist Professorin für internationale Beziehungen an der Schiller-Universität in Paris. In einem unlängst erschienenen Essay „L'Etat islamique est-il défait?“ (Ist der Islamische Staat besiegt?) weist sie auf die anhaltende Anziehungskraft und Schlagkraft der IS-Terroristen hin.

Denn trotz der Vernichtung ihrer Anführer, trotz des Verlustes ihres Protostaates im Irak und in Syrien ist die Terrorgruppe noch lange nicht ausgestorben. Sie profitiert vom Prestige ihres untergegangenen Kalifats und heizt mit markigen Aussagen in den Sozialen Medien antiwestliche Ressentiments an. Benraad: „Wenn man vom Nahen und Mittleren Osten spricht, dann gibt es da zunächst die Verstimmung über die amerikanische Militärintervention im Irak. Man darf nicht vergessen, dass diese Gruppe ursprünglich auf irakischem Boden im Kontext der amerikanischen Besatzung in diesem Land entstanden ist“, erklärt die Autorin, die sich auf den Irak spezialisiert hat.

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Im Irak entstanden

„Die Gruppe wurde zwar im Zuge des syrischen Bürgerkriegs nach Syrien exportiert… Aber ich denke, man muss zum Irak zurückkehren, um die Ressentiments zu verstehen, die die irakischen IS-Kämpfer haben; und diese irakischen Kämpfer dominieren immer noch die Führung der Gruppe. Das sieht man bei jeder gezielten Tötung, auch auf syrischem Boden: Es sind Iraker, die da getötet werden, und die Nachfolger rekrutieren sich dann aus dem irakischen Dschihad.“

Die ehemalige IS-Hochburg Rakka in Syrien unter Beschuss syrischer Truppen (Archivbild August 2017)
Die ehemalige IS-Hochburg Rakka in Syrien unter Beschuss syrischer Truppen (Archivbild August 2017)

Allerdings seien besagte Ressentiments schon lange nicht mehr an nationale Grenzen geknüpft; dies werde auch daran deutlich, wie der IS sich in Afghanistan ausbreiten konnte – einem Land, in dem die Amerikaner 20 Jahre lang gegen die Taliban und andere bewaffnete Gruppierungen gekämpft haben und in dem der IS mittlerweile selbst eine Bedrohung für die Taliban darstellt.

Auf dem afrikanischen Kontinent wiederum seien die salafistischen Dschihadisten vor allem in den Ländern auf dem Vormarsch, in denen französische Streitkräfte stationiert waren, sowie in Gebieten, in denen Bürgerkrieg und Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen herrschen, bemerkt die Expertin – günstige Bedingungen zur Ansiedlung der extremistischen Gruppierung, die in gewisser Weise auch innovative Elemente aufweise.

„Es gibt das Gefühl einer Vergeltung gegen die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, gegen ein Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Diskriminierung, aber die politische und ideologische Dimension bleibt für den Dschihad von Daesh zentral.“ Dabei baue der Islamische Staat seinerseits auf rund 30 Jahren Dschihad auf, orientiere sich an Figuren wie Osama bin Laden, der eine Galionsfigur und Inspiration des internationalen Dschihad darstelle, gehe aber noch einen Schritt weiter, erläutert Benraad.

„Der Islamische Staat war insofern innovativ, als er das Projekt des Kalifats territorialisiert hat“

„Der Islamische Staat war insofern innovativ, als er das Projekt des Kalifats territorialisiert hat. Dies geschah übrigens gegen den Rat einer Reihe anderer dschihadistischer Gruppen und bekannter dschihadistischer Ideologen, die sich eher für einen nationalen Dschihad innerhalb der Grenzen jedes Landes entschieden hatten.“ Dies sei beispielsweise bei der Gruppe Al Jol in Syrien oder in Mali der Fall, wo Dschihad als nationale Angelegenheit betrachtet werde.

Ein weiteres Merkmal des Islamischen Staates sei die extensive Anwendung der „Exkommunikation“ (auf Arabisch Takfir) die viele Muslime das Leben gekostet habe. „Er hat also teilweise Neuerungen eingeführt, aber er erbt, das muss man wohl sagen, von einem Denksystem, das viel älter ist und sich fortsetzen wird.“

Propaganda des Sieges

Der Sirenengesang des Islamischen Staates ist immer noch hörbar, verbreitet sich vor allem über die sozialen Netzwerke und kann dabei auf mehrere Faktoren bauen. Einer davon ist das Prestige der vergangenen Tage: der Traum von einem Kalifat, der im Irak in greifbare Nähe gerückt war und als ein Projekt des „Sieges“ erschien: „Auch wenn es (das Kalifat, Anm.) künstlich war, haben sie es verstanden, eine Propaganda in den Vordergrund zu stellen, die viele Nachahmer gefunden und eine große Verbreitung ermöglicht hat. Ziemlich breit, einschließlich Tausender westlicher Kämpfer, die abreisten, die ihre Hidschra, ihre Migration in den Nahen Osten, vollzogen. Es gab also eine Bewegung, die diesen Traum von der Wiederherstellung des Kalifats verwirklichte.“

An diesem Punkt sei es zu einer Frage des Prestiges geworden, sich dem Islamischen Staat und seiner Botschaft anzuschließen, bemerkt Benraad: „Und das umso mehr, als diese Bewegung sicherstellt, dass sie ihren Gegnern Schaden zufügt. Diese Bewegung hat über ihre Gegner in den letzten Jahren durch eine Welle von erschreckenden Attentaten viel Leid gebracht.“

Die sterblichen Überreste von 21 koptischen Christen, die durch IS-Terroristen 2015 in Libyen getötet wurden, weil sie nicht zum Islam konvertieren wollten, wurden in einem Massengrab bei Sirte aufgefunden (Archivbild)
Die sterblichen Überreste von 21 koptischen Christen, die durch IS-Terroristen 2015 in Libyen getötet wurden, weil sie nicht zum Islam konvertieren wollten, wurden in einem Massengrab bei Sirte aufgefunden (Archivbild)

Die Rekruten, die sich von der Botschaft der Terrorgruppe verführen ließen, verfügten dabei über die unterschiedlichsten sozialen und psychologischen Profile, erläutert die Forscherin. Dennoch macht sie einige Gemeinsamkeiten aus: „Die Profile sind ganz klar junge Profile, die sich entweder aus sozioökonomischen Gründen, aus ideologischen Gründen oder manchmal auch aus kriminellen Gründen für den Dschihad entscheiden. Es gibt auch eine gewisse Dimension der Untätigkeit, die bei vielen bekannt ist und die man im Übrigen auch bei den Rekruten beobachten kann.“

Verschiedene psychologische Profile mit gewissen Gemeinsamkeiten

Also Arbeitsscheu, das Gefühl der Rache für schwierige sozioökonomische Bedingungen, für ein Gefühl der Ausgrenzung und Diskriminierung, oftmals bei jungen arabisch-muslimischen Menschen mit Migrationshintergrund, die in Europa leben – so bringt es die Expertin auf den Punkt. Und doch dürfe man „familiäre, kulturelle und identitätsbezogene Faktoren“ nicht überbewerten, da der Terrorismus ein „politisches Objekt“ bleibe, warnt Benraad: „Meiner Meinung nach muss man auch die hochpolitische, ja sogar geopolitische Dimension dieser Geschichte wieder berücksichtigen. Denn viele politisieren sich durch den Dschihad und wollen einer Sache dienen. Und genau aus diesem Grund haben wir diese Pluralität an soziologischen Profilen.“

Ein zukünftiges Kalifat in Afrika?

„Die Terrorgruppe, die ihre Inspiration und Ausrichtung aus einem salafistisch-dschihadistischen Register schöpft, hatte nie das Ziel, die etablierten Systeme zu reformieren, sondern sie im Namen ihrer Utopie zu vernichten“, erklärt die Autorin in ihrem Essay. Gestützt auf diese Ideologie und eine triumphalistische Kommunikation schmiedet der IS Allianzen mit lokalen Terrorgruppen, vor allem in Afrika, und entwickelt nach dem Vorbild des Islamischen Staates in der Großen Sahara (EIGS) lokale Ableger seiner Gruppe. Eine Strategie, die es dem IS zwar ermöglichen kann, seine Macht auf lokaler Ebene zu festigen, die es aber laut Myriam Benraad derzeit nicht erlauben würde, ein neues Kalifat nach dem Vorbild des irakischen Versuchs zu schaffen: „Die Niederlage war so überwältigend und hat auch die Zivilbevölkerung so viel gekostet, die diese Bewegungen heute weitgehend ablehnt, auch wenn man weiß, dass gewisse Komplizenschaften bestehen bleiben, auch wenn man weiß, dass es ihnen gelingt, einige Viertel zurückzuerobern, dass es ihnen immer noch gelingt, Angst und Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten.“

„Da Afrika politisch und gemeinschaftlich so stark gespalten ist, erscheint es mir schwierig, kurz- oder mittelfristig die Entstehung eines Kalifats nach dem Vorbild des Nahen Ostens zu erwarten“

Insbesondere in Westafrika nimmt unterdessen die Sorge um eine Radikalisierung junger Leute und ein Wiederaufleben des Islamischen Staates und seiner territorialen Ansprüche zu. Eine Sorge, die Benraad nicht uneingeschränkt teilt:

„In Afrika ist das Problem ein anderes. In Afrika stellt sich die Frage nach der Sicherheit und dem Militär, das die Aufgaben vor Ort übernehmen und die Territorien und Gemeinden verteidigen soll, um auch die Sicherheit an den Grenzen zu gewährleisten. Da Afrika politisch und gemeinschaftlich so stark gespalten ist, erscheint es mir schwierig, kurz- oder mittelfristig die Entstehung eines Kalifats nach dem Vorbild des Nahen Ostens zu erwarten. Das bedeutet aber nicht, dass diese Hypothese völlig abwegig wäre. Es stimmt, dass einige Stimmen und Forscher diese Möglichkeit heute äußern, aber sie erscheint mir derzeit unwahrscheinlich.“

(vatican news)

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02. Juni 2023, 11:11