Buchtipp: Wie sechs Elsässer Pfadfinderinnen Hunderte vor den Nazis retteten
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Sie sind zwischen 17 und 27 Jahre alt, als Hitler 1940 das Elsass annektiert. Und wie viele ihrer Landsleute leisten sie Widerstand gegen die mörderische Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis. „Equipe Pur-Sang“ nennen sie sich, „Vollblut-Team“. Was diese jungen Christinnen dann ins Werk setzen, tun sie mit Entschlossenheit, Chuzpe und einem Grad an Organisation, der heute noch erstaunt.
Sie retten Verfolgte vor dem Zugriff der Nazis, jede Art von Verfolgten: geflohene Kriegsgefangene, Juden und Jüdinnen, Atheisten, linke Gewerkschafter. Für ihre Fluchthelferdienste schreiben die Pfadfinderinnen briefmarkengroße Werbezettel. Wer weg will oder muss, hat einen Treffpunkt: die Straßburger Innenstadtpfarrei Saint-Jean, unter der Madonnenstatue. Wer sich neben die dort betende Pfadfinderin kniet und das Codewort „Pierre“ – Petrus – kennt, ist dabei. Die junge Frau erklärt, was Sache ist, knapp und konzentriert. Dann geht es los. Sie lotsen sie durch Nacht und Nebel über die Berge, auch bei Schnee, oft zu Stützpunkten von Verbündeten oder zu kleinen Bahnhöfen, von wo es weiter in die Freiheit geht.
Ein Netz verschwiegener Helfer
Mehrfach wechseln die Pfadfinderinnen die Fluchtrouten, weil die alten zu gefährlich werden. Unterstützung finden sie bei einer ganzen Reihe von Helfern und Helferinnen. Ladeninhaber geben unauffällig Essen. Andere besorgen Mützen, weil die kahlgeschorenen Köpfe ehemaliger Soldaten und Gefangener auffallen. Wieder andere fabrizieren gefälschte Ausweise mit echten, gestohlenen Gebührenmarken. Elsässer Schaffner im Zug schauen weg. Ordensfrauen in den Bergen versorgen Flüchtende und Pfadfinderinnen mit Nachtmahl, warmen Betten und Zuversicht.
Intervenierte Pius XII.?
Fünf der sechs Pfadfinderinnen wurden 1942 von der Gestapo geschnappt und eine von ihnen zum Tod durch das Fallbeil verurteilt, wegen Hochverrats. Warum das Urteil nicht vollstreckt wurde, lässt sich nicht genau nachvollziehen. Möglicherweise, so der Autor unter Berufung auf eine Quelle aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, war es Papst Pius XII., der Hitler in dieser Causa einmal erfolgreich in den Arm fiel mit einer stillen, schriftlichen Intervention. Stoff für weitere Forschungen.
Abgeschritten und nachgefragt
Die Geschichte der „Equipe Pur-Sang“ ist nicht unbekannt. Das Verdienst von Thomas Seiterich mit dieser Recherche, diesem Buch ist es, die Orte dieses Netzwerks physisch abgeschritten und überall nachgefragt zu haben. Er fand Nachkommen von Helfern, die Fotoalben und Familienerinnerungen teilten, etwa über die Wirtin im Berggasthof, die bei reiner Luft weiße Bettlaken draußen aufhing als Code für die Pfadfinderin, die mit ein paar Flüchtlingen in Anmarsch war. Und seit den 1990er Jahren pflegte Seiterich Kontakt mit den Pfadfinderinnen selbst – die letzte, die jüngste, starb dieses Jahr.
Buchtipp: Thomas Seiterich: Letzte Wege in die Freiheit. Sechs Pfadfinderinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Hirzel 2023.
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