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Vertriebene Bewohner des angegriffenen Viertels Carrefour Feuilles versammeln sich vor einem Militärstützpunkt, um Hilfe zu erhalten Vertriebene Bewohner des angegriffenen Viertels Carrefour Feuilles versammeln sich vor einem Militärstützpunkt, um Hilfe zu erhalten 

Misereor: „Kriminelle Drahtzieher in Haiti zur Verantwortung ziehen“

Tausende von Bewohnern mussten in den vergangenen Tagen ihre Wohnungen verlassen, weil eine kriminelle Bande das Viertel Carrefour Feuilles von Port-au-Prince mit Gewalt überzieht. Hintergrund ist der Versuch, mehr Territorium in einer Stadt zu erobern, die bereits zu 80 Prozent in der Hand von Kriminellen ist. Misereor ist eines der Hilfswerke, die sich nach wie vor um die leidende Bevölkerung Haitis kümmern. Wir sprachen mit Länderreferentin Barbara Albrecht.

Christine Seuss - Vatikanstadt

Radio Vatikan: Die Situation in Haiti bereitet der internationalen Gemeinschaft schon lange Sorgen, und UN-Chef Guterres hat erst im Juli seine Forderung nach einer internationalen Eingreiftruppe eindringlich wiederholt. Jeder Tag zähle, sagte er nach seinem Besuch in dem Karibikstaat. Nichts Konkretes ist bislang passiert. Doch nun scheint die Situation endgültig gekippt zu sein. Was ist los in Haiti?

Barbara Albrecht: „Eigentlich begannen diese Probleme schon Ende 2018. Schon damals habe ich gedacht, dass es eigentlich nicht mehr viel schlimmer werden könnte. Und wenn ich mir so die letzten Jahre angucke, ist die Situation nicht unbedingt erst in der letzten Woche gekippt.

Aber da gab es noch mal ganz massiv schlimme Vertreibungen im Stadtviertel Carrefour Feuilles, zehntausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen, viele wurden ermordet. Mittlerweile wird Port-au-Prince ja fast zu 80 Prozent von Banden mehr oder weniger regiert und eine Bande hatte sich jetzt dieses Viertel vorgenommen und sehr viel Unheil angerichtet.“

Hier zum Nachhören

Radio Vatikan: Wieso ist die Regierung derart machtlos? Die Banden scheinen ja seit langem sehr ungestört zu agieren.

Barbara Albrecht: „Im Prinzip gibt es keine wirkliche Regierung, es gibt ja keine gewählte Regierung mehr. Und mir sagen unsere Partnerorganisationen vor Ort, dass die Situation eher durch einen Personenkreis von hochrangigen Gesellschaftsmitgliedern bewirkt wurde, die teilweise gar nicht mehr in Haiti leben. Also es ist so eine Art kriminelle Industrie geschaffen worden, auch aus dem Ausland unterstützt. Waffenhandel oder Handel mit Munition, Schmuggel, Drogenhandel - und auch mit den Transporten von diesen Waffen lässt sich halt sehr viel Geld verdienen. Und es ist da so ein mafiaartiges Netzwerk entstanden, welches stärker ist als die Regierung beziehungsweise die Möchtegern-Regierung und vor allen Dingen auch viel stärker als die Polizei.“

„Angesichts dieser Gewalt, die auf den Straßen herrscht, wäre es überhaupt nicht möglich, demokratische Wahlen durchzuführen“

Radio Vatikan: Wie geht es denn mit der Demokratie weiter, nachdem - wie Sie ja gesagt haben - der aktuell kommissarisch agierende Präsident Ariel Henry gar nicht demokratisch gewählt wurde? Er wurde erst nach dem brutalen Mord an Jovenel Moise ins Amt gehoben. Stehen angesichts des offensichtlichen Versagens der Regierung eventuell Neuwahlen an?

Barbara Albrecht: „Ja, das wäre eigentlich an der Zeit und dringend erforderlich. Aber es ist unvorstellbar, im Moment vor diesem Hintergrund Wahlen durchzuführen, weil die Strukturen gar nicht funktionieren. Angesichts dieser Gewalt, die auf den Straßen herrscht, wäre es überhaupt nicht möglich, demokratische Wahlen durchzuführen. Eine Zeit lang war das das Hauptinteresse von Amerika, Kanada und der internationalen Gemeinschaft, die dahin gedrängt hat. Aber inzwischen ist man sich einig, dass man erst einmal Menschenrechte stärken muss, Frieden schaffen muss, damit die Leute wieder ohne Angst auf die Straße gehen können. Abgesehen davon gibt es gar keine ordentlichen Wahlregister. Die Menschen sind nicht mehr registriert, die Behörden funktionieren nicht, die Papiere sind veraltet und so weiter. Es wären also definitiv keine demokratischen Wahlen, die jetzt stattfinden könnten.“

Menschen in Port-au-Prince fliehen mit ihren wenigen Habseligkeiten vor der Bandengewalt
Menschen in Port-au-Prince fliehen mit ihren wenigen Habseligkeiten vor der Bandengewalt

Verzweiflung und Hoffnung

Radio Vatikan: Es klingt ja so, als könnte das auch nur mit intensiver internationaler Hilfe geschehen. Allerdings tut sich auf dem Gebiet kaum etwas. Warum ist das so und was muss sich ändern?

Barbara Albrecht: „Ich glaube, es ist auch so ein bisschen die Verzweiflung. Also wie hilft man? Viele Organisationen und Institutionen haben sich aus Haiti zurückgezogen. Botschaften haben ihre Mitarbeiter wieder zurückbeordert, zuletzt auch die amerikanische Botschaft, die alle Diplomaten zurückgerufen hat. Es sind aber nach wie vor internationale Hilfswerke vor Ort, wir ja auch mit Misereor. Und ich glaube, das ist auch sehr wichtig, weil die Vertriebenen sich jetzt aus der Stadt ins Land bewegen, viele bei ihren Familien unterkommen, die aber auch oft kaum überleben können. Und ich glaube, diese Menschen muss man nach wie vor stärken.

Ich denke, das geht am besten, indem man auf die lokalen Partner setzt, also mit den Leuten arbeitet, die vor Ort sind. Wir haben da gute Strukturen, sind sehr stark in der Ernährungssicherheit und versuchen, unsere Partner auch weiterhin zu unterstützen. Ich war im Februar vor Ort im Süden und habe gesehen, dass die Projekte auch weiterlaufen. Also es gibt auch Hoffnung, die leider nicht in Port-au-Prince zu sehen ist, aber es geht auch weiter.“

Haitianer haben in einem Auffanglager Zuflucht gefunden
Haitianer haben in einem Auffanglager Zuflucht gefunden

„Wir fordern, dass Gerechtigkeit einkehrt und Systeme geschaffen werden, die es erlauben, auch wieder Strafverfolgung zuzulassen, was im Moment überhaupt nicht möglich ist“

Radio Vatikan: Welche konkreten Forderungen stellt denn Misereor als Hilfswerk, das die Situation vor Ort sehr gut einschätzen kann?

Barbara Albrecht: „Wir appellieren an die Bundesregierung, aber auch an die internationale Gemeinschaft beziehungsweise die Europäische Union, sich dafür einzusetzen, dass die Verantwortlichen, die Drahtzieher, die hinter diesen ganzen kriminellen Taten stecken, auch verfolgt werden.

Es gibt Verdachtsmomente gegen sehr bekannte Politiker im Land, teilweise auch schon Berichte über die Verstrickung in diese Kriminalität. Und wir fordern, dass Gerechtigkeit einkehrt und Systeme geschaffen werden, die es erlauben, auch wieder Strafverfolgung zuzulassen, was im Moment überhaupt nicht möglich ist.

Und wir wünschen uns natürlich, dass die internationale Gemeinschaft in erster Linie die Zivilbevölkerung stärkt, die ja derzeit völlig vergessen ist und sich nicht mehr – wie es lange der Fall war - hinter die Regierung und Premierminister Ariel Henry stellt. Man darf nicht vergessen, dass die internationale Gemeinschaft sehr darauf gedrängt hat, diesen Menschen ins Amt zu heben, der überhaupt keine Legitimation hat und unter dessen Regierung im Land die Zivilbevölkerung definitiv den Kürzeren zieht.“

Ein Konvoi mit kenianischen Delegaten kommt aus der Resident der haitianischen Polizeibehörde in Port-au-Prince (21. August 2021)
Ein Konvoi mit kenianischen Delegaten kommt aus der Resident der haitianischen Polizeibehörde in Port-au-Prince (21. August 2021)

Radio Vatikan: Um noch einmal auf die Forderung nach einer internationalen Eingreiftruppe zurückzukommen. Diese Forderung ist nicht neu und wird ja insbesondere von Guterres sehr eindringlich gestellt. Kenia hat sich bereiterklärt, eine Einsatztruppe zu leiten, aber auch hier regt sich Widerstand. Warum gelingt es nicht, ein Einvernehmen zu finden?

Barbara Albrecht: „Also einerseits gibt es auch so eine Protestbewegung im Land dagegen. Da war noch nicht von Kenia die Rede, sondern vielleicht wieder von einer Blauhelmmission oder ähnliches. Und da hat man halt auf die letzten Jahre zurückgeschaut, die mit schlechten Erinnerungen verbunden sind. Damals hatten die UN-Blauhelmtruppen nach dem Erdbeben Cholera ins Land gebracht, es gab viel Missbrauch und so weiter, so dass man diese Mission also nicht gut in Erinnerung gehabt hat.

Und das gleiche kam jetzt auch ein Stück weit auf, als man von Kenia sprach. Man hat dann auch mal geschaut, wie sich denn die kenianische Polizei aufgestellt hat, und hat festgestellt, dass es bei denen auf der Straße gerade auch nicht allzu demokratisch zugeht mit Demonstrationen.

Es ist schon eine gewisse Skepsis da. Und ansonsten, glaube ich, ist es eine Geldfrage und auch eine Frage: Wer übernimmt diese Verantwortung, in dieser Situation eine Führungsrolle zu übernehmen? Ich glaube, das dauert noch ein bisschen, bis da eine Lösung gefunden ist.“

(vatican news)

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25. August 2023, 13:01