Libanon: Appell der Religionsführer angesichts bitterer Armut
Jean-Charles Putzolu - Vatikanstadt
Mit einem äußerst eindringlichen Appell haben sich die katholischen Führer des Libanon an die Öffentlichkeit gewandt. Es sei der Schrei „der Vergessenen, der Unsichtbaren, derer, die wir nicht sehen wollen und die doch im Libanon immer zahlreicher werden“, schreibt die Versammlung der katholischen Patriarchen und Bischöfe: „Dieser Schrei ist der Schrei der Armen, der Bedürftigen, die Geld, Brot und Kleidung brauchen.“
Kritik an Gesellschaft und Wirtschaft, die in die Knie geht
Dieser Appell der katholischen Kirchen des Libanon anlässlich des Welttages der Armen, an dem am Sonntag, den 19. November, in Bkerké eine große Messe stattfinden wird, wurde an Pfarreien, Wallfahrtsorte, Schulen und Universitäten verteilt. In dem Text werden alle von der Krise betroffenen Bereiche hervorgehoben: Krankenhäuser, die sich die Pflege von Kranken und Behinderten nicht mehr leisten können, das Bildungswesen, der öffentliche Sektor und die Armee. Alles Bereiche, die „tagtäglich eine bewundernswerte Aufgabe erfüllen, um den Bedürftigsten zu helfen, und dies unter schwierigen Arbeitsbedingungen, die durch die Nachlässigkeit, Untätigkeit und Korruption der politischen Verantwortlichen unwürdig sind.“
Die Untätigkeit der Politiker
Die Botschaft der Patriarchen und Bischöfe warnt auch vor der Gefahr der Schließung von Gemeinschafts-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialverbänden, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit, da sie nicht mehr in der Lage seien, ihre Aufgaben zu erfüllen. Indem sie sich direkt an die politischen Verantwortlichen wenden, prangern die Kirchenführer an, dass das Vereinswesen aufgrund der „Nachlässigkeit“ des Staates zum Tode verurteilt ist. Infolgedessen, so heißt es in dem Appell weiter, „zerstören Sie das, was unsere Vorfahren in Jahrhunderten aufgebaut haben, opfern die heutige Generation und zerstören die Zukunft.“
Die Hoffnung liegt in der libanesischen Jugend
Für Schwester Marie Antoinette Saadé macht sich der Appell der Patriarchen den Schrei der neuen Armen zu eigen. Die Präsidentin der Generalversammlung der Höheren Oberen des Libanon und Oberin der Kongregation der Maronitenschwestern von der Heiligen Familie beschreibt in einem Interview mit Radio Vatikan die Not der Bürger des Libanon.
Schwester Marie Antoinette Saadé, halten Sie den Aufruf der Patriarchen und Bischöfe zum Welttag der Armen für einen der dringlichsten und vielleicht auch für einen der schwerwiegendsten der letzten Jahre?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Ja, genau. Es ist ein Appell, ein Schrei. Das steht sogar mehrmals im Text. Es ist ein Schrei, der sich an den libanesischen Staat richtet, der auf diesen Appell nicht reagiert. Es ist ein Schrei für die Armen, für die neuen Armen, die die Situation hervorbringt. Es ist ein Schrei des Herzens, der sich an den libanesischen Staat, an Menschen guten Willens und an humanitäre Vereinigungen in der ganzen Welt richtet, denn die Lage im Libanon wird immer schlimmer.
Den Libanon mit diesem Welttag der Armen in Verbindung zu bringen, wie in der Botschaft beschrieben, bedeutet ja praktisch, dass das ganze Land arm ist. Das ist eine dramatische Aussage. Wer kümmert sich heute um den Libanon?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Ich glaube, der Papst hat Mitleid mit uns. Wir haben viele Freunde in der Welt. Wir haben überall Freunde, aber die Situation vor Ort ist nach wie vor sehr schwierig, weil wir von einer Krise in die nächste geraten, von einem Problem zum anderen. Schulen, Sozialzentren, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, alle sind wirklich in Not. Ganze Familien kommen nicht über die Runden. Sie sind nicht in der Lage, nach den grundlegendsten Standards zu leben. Sie können keine Medikamente kaufen. Sie können ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken. Sie können einfach nicht mehr leben.
Die Bischöfe und Patriarchen zeigen mit dem Finger auf die Politiker, auf deren Nachlässigkeit und Korruption, beschuldigen sie, sich ihrer Verantwortung zu entziehen und die Libanesen sogar zu demütigen. All das steht in dem Text. Wie können wir unter diesen Bedingungen hoffen, aus der Krise herauszukommen?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Ich weiß nicht, wie. Unsere Hoffnung liegt, glaube ich, in unserer Jugend. Die libanesische Jugend ist dynamisch. Unter diesen jungen Menschen befinden sich die zukünftigen politischen Führer. Unsere Hoffnung liegt in diesen jungen Menschen, die sich bewährt haben. Wir wissen, was wir von den Politikern zu erwarten haben: Sie sind taub. Keiner antwortet. Die öffentlichen Strukturen funktionieren nicht. Und wenn die öffentlichen Strukturen nicht funktionieren, wie sollen sie dann den privaten Strukturen, den katholischen Schulen, den katholischen Krankenhäusern, all den Menschen, die da draußen für alle arbeiten, Aufmerksamkeit schenken? Wenn sie nicht für den öffentlichen Sektor arbeiten, wie sollen sie dann dem privaten Sektor und dem, was von der heutigen Gesellschaft übrig geblieben ist, helfen?
Dieses ganze Geflecht von Vereinigungen wird von NRO, Wohlfahrtsverbänden und in vielen Fällen von der Kirche zusammengehalten. Aber wie lange kann diese Situation noch anhalten?
Sr. Marie Antoinette Saadé: In diesem Jahr kann uns das katholische humanitäre Netz nicht mehr helfen, wie es das im letzten Jahr und in den Vorjahren getan hat. Auch dieses Netz ist erschöpft und beginnt, der Situation im Libanon überdrüssig zu werden, denn die Probleme werden immer schlimmer und die Mittel werden immer knapper. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland hat Europa ausgelaugt und die Europäer, die Geld gespendet und den Libanesen geholfen haben.
Können Sie noch auf die Diaspora zählen?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Natürlich können wir das. Wenn die Libanesen außerhalb des Landes nicht ihre Familien unterstützt hätten, sähe die Lage anders aus. Dann hätten wir Menschen auf den Straßen sterben sehen. Im Moment sind die Menschen noch zu Hause. Sie haben zwar nicht die Mittel, aber sie sind in ihren Häusern. Das liegt daran, dass es Menschen gibt, die ihren Familien helfen. Menschen in Australien, in den Vereinigten Staaten und in Europa. Gäbe es die Diaspora nicht, gäbe es nicht das Netz der katholischen humanitären Vereinigungen, wäre der Libanon verschwunden, oder zumindest wäre seine Bevölkerung verschwunden. Die Situation wäre eine andere gewesen. Trotzdem bleibt die Lage vor Ort sehr schwierig.
Hinzu kommt der Krieg zwischen Israel und der Hamas, der den Libanon in eine sehr angespannte Lage gebracht hat. Vor allem im Süden häufen sich die Zwischenfälle an der Grenze zur Hisbollah. Was sind Ihre Befürchtungen?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Unsere Ängste sind die regelmäßigen Drohungen aus Israel. Jeden Tag hören wir Drohungen, Beirut zu bombardieren, was den Libanon in einen weiteren Gazastreifen verwandeln würde. Die Bevölkerung im Süden ist nach Tyrus, Sidon und Beirut gezogen. Die Lage wird immer schwieriger. Wir befürchten eine ähnliche Situation wie im Jahr 2006, als Israel die libanesische Infrastruktur bombardierte. Die aktuellen Drohungen lassen uns etwas befürchten, das noch schlimmer wäre als 2006. Wir fürchten um den Libanon, wir fürchten um den Süden. Dies ist eine weitere schwierige Krise, die zu den anderen hinzukommt. Ich hoffe, dass sich die Lage beruhigen wird. Wir haben Angst um die Kinder in Gaza und um all die Menschen, die unter den Bombardierungen sterben. Wir haben Angst, dass diese Situation auf uns übergreift, auf den Libanon, der kaum noch stehen und leben kann. Es ist eine zu schwierige Situation. Wir warten ab.
Und dazu gesellt sich die große Zahl syrischer Flüchtlinge im Libanon, vor allem im Süden, die nun ebenfalls gezwungen sind, umzuziehen...
Sr. Marie Antoinette Saadé: Das ist das größte Problem im Libanon. Ich denke, wir können mit dem Hunger, dem Mangel an Medikamenten und allem anderen umgehen. Aber die Situation der Flüchtlinge im Libanon, die Situation der Syrer im Libanon... Es ist für ein so kleines Land mit vier Millionen Einwohnern nicht möglich, drei Millionen Flüchtlinge zu versorgen. Diese Menschen haben das Recht, in ihr Land zu gehen und dort in Würde zu leben. Stattdessen leben sie hier in Lagern. Außerdem leben diese Menschen in einem Land, das nicht einmal für ihre Bedürfnisse sorgen kann. Das ist eine unannehmbare Situation.
Was sind Ihre Gründe, doch Hoffnung zu haben?
Sr. Marie Antoinette Saadé: Zum Glück haben wir Hoffnung. Alles, was wir tun können, ist, unsere Augen zum Himmel zu erheben und zu sagen: „Herr, erbarme dich. Wirklich, erbarme dich unser, erbarme dich deines Volkes, komm uns zu Hilfe“. Gleichzeitig sage ich mir aber auch, dass wir einen Grund zur Hoffnung unter den jungen Menschen im Libanon haben. Diese dynamischen, lebensfrohen jungen Menschen, die bereit sind, ihrem Land zu dienen, könnten den Libanon wirklich wieder auf die Beine bringen und diesem armen kleinen Land eine Zukunft bereiten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.
(vatican news - cs)
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