Kolumbien: Kirche als Hoffnungsspender
Brigitte Schmitt - Rom
„Die Zahl der Migranten hat enorm zugenommen, vor allem sind es Venezolaner“, berichtet María Lourdes Álvarez. „Doch es sind auch Ecuadorianer und Peruaner dabei. Vor allem der Zustand der Venezolaner ist deprimierend, wegen der extremen Armut, der Degradierung der Menschen. Es sind jene aus der untersten Gesellschaftsschicht. Sie kommen zu Fuß, es sind jene, die auf der Straße leben. Sie haben nichts, kein Dach über dem Kopf, nichts zum Essen. Sie betteln. Sie werden betrogen, beraubt, es ist schrecklich.“
Diese Migration aus Venezuela und ganz Südamerika habe es schon immer gegeben, präzisiert María Lourdes Álvarez. Aber seit der COVID Pandemie seien die Zahlen „exponentiell“ gestiegen, während sich allein die Zahl der Venezolaner von 2022 auf 2023 verdoppelt habe:
„Der Grund dafür ist die US-amerikanische Einwanderungspolitik“, analysiert die Expertin mit Blick auf die Tatsache, dass im Mai dieses Jahres der Artikel 42 der US-Einwanderungs- und Asylpolitik ausgelaufen ist. Diese Regelung ermöglichte es, potentiell infizierte Menschen von der Einreise in die USA abzuhalten. Während der Corona-Pandemie wurde im März 2020 die Grenzschutzpolizei unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump explizit angewiesen, diese Regel rigoros anzuwenden. Viele der Migranten aus Mittel- und Südamerika hatten sich durch den Wegfall dieser Regelung bessere Chancen für eine Aufnahme in den USA erhofft: jetzt sind sie aber zunehmend desillusioniert.
Unklare Informationen
„Viele der Migranten wurden von dieser Nachricht überrascht und blieben zwischen dem Darién und der Grenze hängen. Oft haben sie unklare Informationen. Oder sie schenken den Informationen keinen Glauben. Ihr Ziel ist die Migration. Ihr einziger Wunsch ist eine Verbesserung ihrer Lebensqualität, ein humaneres Leben. Es sind nicht nur die materiellen Umstände, sondern auch der Hunger. Und wenn sie die Grenze erreichen, dann hoffen sie auf ein Wunder.
Im vergangenen Jahr hatte sich die Lage etwas beruhigt. Doch im Februar kamen sie wieder in Massen und jetzt schätzt man, dass etwa 428 000 Migranten in diesem Jahr über den Tapon del Darién übersetzen werden.“
Der Darién Gap gilt als eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Zwischen Kolumbien und Panama gibt es keine Wege oder Straßen, um von Südamerika nach Mittelamerika oder weiter in die USA zu gelangen. Viele stranden in Necocli, einer kleinen Stadt mit rund 45.000 Einwohnern am Golf von Urabá. Doch ihr Ziel ist etwa 5000 km entfernt.
Nachdem die Fluchtrouten nach Europa über Land immer schwieriger wurden, versuchen selbst Migranten aus Afrika, dem Nahen Osten bis Afghanistan ihr Glück durch dieses Dschungelgebiet, das nur per Boot überwunden werden kann.
Verlässliche Zahlen über die Migranten gibt es von den Behörden weder auf kolumbianischer noch auf panamaischer Seite. Die Route wird verglichen mit der Fluchtroute über das Mittelmeer, mit ähnlich hohen Opferzahlen. Denn auf der Route kreuzen sich die Migranten-Schlepper mit Waffen-und Drogenhändlern. Migranten geben den Schleppern immense Geldsummen, um nach Norden in die USA zu kommen. Die Angaben über die Kosten schwanken je nach Ursprungsland zwischen 5.000 und 10.000 Dollar. Mit dem Risiko sind auch die Preise ins Unermessliche gestiegen. Doch warum vertrauen die Menschen ihr Schicksal den Schleppern an?
„Es ist keine Frage des Vertrauens, sondern der Verzweiflung“, erläutert María Lourdes Álvarez. „Da sind die illegalen Waffenhändler, die Paramilitärs. Wer würde denen vertrauen? Und es geht nicht nur um eine Verbesserung des eigenen Lebens, vielmehr um ein besseres Leben für die Kinder. Die Migranten vertrauen auf keinen Führer. Was sie wollen, ist an einen bestimmten Ort kommen, koste es was es wolle. Sie machen sich auf den Weg, weil ihnen ihr Heimatland keine Garantien gibt, nicht auf ein Auskommen, weil ihre Rechte nicht geschützt werden.“
Die Kirche gebe in dieser Situation eine „humanitäre Antwort“ – so wie es Papst Franziskus bei der Synode gefordert habe, meint Lourdes Álvarez: „Wir sind Synode. Wir helfen mit Medikamenten, mit Lebensmitteln.“ Mit Unterstützung des kirchlichen Lateinamerika-Hilfswerkes Adveniat werde derzeit auch eine Migrantenherberge in Necocli gebaut, berichtet die Psychologin, der viele Migranten ihr Herz ausschütten.
„Ich sehe unsere Aufgabe als Kirche auch darin, denen zuzuhören, die alles verloren haben. Ich meine nicht nur den materiellen Verlust, die Menschen verlieren ihre Identität. Wir stehen ihnen emotional zur Seite. Die, die bei uns hier ankommen, werden sich bewusst, dass die USA nicht das ist, was sie sich vorgestellt haben. Einige – sicher nicht die Mehrheit - sagen uns, wenn Kolumbien ihnen eine Garantie geben würde auf Arbeit, dann würden sie in Kolumbien bleiben. Oder in einem anderen Zentralamerikanischen Land. Sie sehen, dass die USA nicht unbedingt das sind, was sie brauchen.“
Seit dem mehrere Jahrzehnte andauernden Konflikt mit den Guerillas gibt es in Kolumbien Millionen von Binnenflüchtlingen. Ist der Staat überfordert? Sind die Behörden überhaupt an einer Regelung interessiert?
Der Staat, die Kirche und die Hilfsorganisationen
„Der Staat überlässt alles der Kirche und den Hilfsorganisationen", klagt Lourdes Álvarez. „Wir müssen die Menschen retten. Das ist das Wichtigste. Da gibt es auch keine Unterschiede zwischen Glaubensrichtungen und Kirchen. Egal, ob wir von der katholischen Kirche sind, von der Pfingstbewegung, oder Zeugen Jehovas. Es geht nicht um Missionierung, sondern um humanitäre Hilfe. Die Kirchen kooperieren, um zu helfen. Jeder ist willkommen.“
Oft steht die Kirche im Brennpunkt. Die Kirche versucht seit Jahrzehnten, zwischen den Fronten, zwischen der Regierung und den Rebellen zu vermitteln. Unter Vermittlung der kolumbianischen Bischofskonferenz kam in diesem Sommer auch ein Waffenstillstand mit der ELN, der letzten verbliebenen Guerilla-Gruppe in Kolumbien, zustande. Doch immer wieder liest man in den Nachrichten von Gewalt und Konflikt. Wie sicher fühlt sich Maria Lourdes Alvarez? Wurde sie oder ein Kirchenvertreter je bedroht?
„Die Kirche kann in Gebiete gehen, wo andere Organisationen nicht vordringen können. Unsere Kirche ist weit verbreitet, nicht nur in der Region Uraba, sondern im ganzen Regierungsbezirk Choco. Die Kirche hält die menschlichen Werte aufrecht und deshalb respektiert uns die Bevölkerung. Kein Bischof, kein Priester, kein Kirchenmitarbeiter ist je bedroht worden. Die Kirche wird respektiert. Denn die Menschen wissen, dass wir uns für das Wohl der Bevölkerung einsetzen.“
Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat setzt sich mit seinen Partnerinnen und Partnern vor Ort für das Recht auf Migration ein und fordert sichere Fluchtrouten. Unter dem Motto „Flucht trennt. Hilfe verbindet“ ruft das Hilfswerk in seiner diesjährigen Weihnachtsaktion die Menschen zu Solidarität auf mit den Flüchtenden in Lateinamerika und der Karibik, die auf ein menschenwürdiges Leben hoffen.
(vatican news)
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