Interview: Ein Jahr als Geisel in Mali
Seine Brille ist zerkratzt vom malischen Sand, und eine neue Aufgabe hat ihm sein Orden noch nicht zugeteilt, aber Pater „Ha-Jo“ ist guter Dinge. Er will in nächster Zeit an das Grab der hl. Josefina Bakhita nach Norditalien pilgern (das hatte er für den Fall seiner Freilassung gelobt) und auch nach Fátima, um sich dann später auf eine neue Aufgabe vorzubereiten. Wenn möglich, dann wieder im Bereich des christlich-islamischen Dialogs; das war ein Schwerpunkt in den über dreißig Jahren gewesen, die Pater Lohre in Mali verbracht hat.
Interview
Pater Ha-Jo, herzlich willkommen bei uns bei Radio Vatikan! Wir sind stolz darauf, Sie hier zu haben als jemanden, der in der Gefangenschaft in der Wüste in Mali unsere Programme auf Englisch und Französisch gehört hat. Also, das passiert uns auch nicht alle Tage – herzlich willkommen bei uns!
„Danke schön!“
Erzählen Sie mal bitte vom November 2022. Sie sind doch schon seit Jahrzehnten in Mali engagiert im christlich muslimischen Dialog. Und auf einmal: die Entführung in Bamako…
„Ja, das war am 20. November ‘22. Am Hochfest von Christkönig habe ich mich darauf vorbereitet, in einen Stadtteil zu fahren, um da mit einer Gemeinde die Christkönigsmesse zu halten. Und als ich auf mein Auto zugegangen bin, kam ein anderes Auto mit hoher Geschwindigkeit und hat sich hinter mein Auto gesetzt; dann sprangen drei Männer heraus, einer kam um mein Auto herum und sagte mir: ‚Pater, Sie sind festgenommen‘. In dem Moment hat mich jemand von hinten umklammert und in das Auto reingezogen – und dann fuhren wir weg. Das war eine Sache von, ich weiß nicht, fünf Sekunden… Und bei der Gelegenheit ist vermutlich mein kleines Kreuz heruntergefallen, das ich um den Hals trug und das man nachher gefunden hat.
Ja, und dann ging es zwei, drei Stunden auf der Straße Richtung Norden, nehme ich an, denn ich hatte eine Mütze über dem Kopf. Jedes Mal, wenn das Auto abbog, haben sie mir den Kopf auf die Knie von dem rechts sitzenden Mann gelegt, damit ich nicht sah, wo wir hinkamen. Nach ungefähr zwei, drei Stunden fuhr der Wagen rechts ab von der Straße in den Busch, wie wir das nennen; dort haben wir angehalten, es wurde telefoniert, und dann kamen nach ein, zwei Stunden drei Leute mit Turbanen auf dem Kopf und Kalaschnikows auf dem Rücken, auf zwei Motorrädern; die haben mich dann mit dem Auto übernommen, während die anderen Leute wieder zurück nach Bamako gefahren sind, wie ich annehme.“
Das ist ja ein schlimmes Szenario – hatten Sie eigentlich damit gerechnet, dass so was mal passieren könnte?
„Wenn Sie morgens ins Auto steigen, rechnen Sie dann damit, dass Sie einen Unfall haben? Wir sind uns immer des Risikos bewusst gewesen – aber nicht, dass mir das passiert… und nicht heute…. Es wurde mir jedenfalls sehr schnell klar, dass das eine dschihadistische Entführung war. Und dann hatte ich wirklich die Gnade, drei Entscheidungen zu treffen.
Erstens: Ich hatte ohnehin ein Sabbatjahr machen wollen – kein ganzes Jahr, aber eben eine Auszeit. Dann habe ich mir gesagt: Okay, dann fängt die etwas früher an als vorgesehen; also kein Stress, keine Termine, und viel Zeit zum Beten. Zweitens: Mir kam ein Satz von Viktor Frankl in den Sinn, den ich oft zitiert habe, wenn ich Novizinnen in Mali Schulungen gab. Frankl sagte: ‚Das Konzentrationslager haben nicht diejenigen überlebt, die die SS gehasst haben und nicht die, die aufgegeben haben oder sich aufgegeben haben, sondern die, die es verstanden haben, der Sache einen Sinn zu geben‘. Und ich sagte mir, dass ich der Sache jetzt folgenden Sinn geben würde: ‚Ich fange jetzt mein Sabbatjahr an, eine Zeit, um meinen Glauben zu vertiefen‘. Und das Dritte, das war die Geschichte von Josef aus dem Alten Testament, der ja von seinen Brüdern verkauft wurde und dann Stück für Stück zunächst Gouverneur wurde und schließlich später seine Brüder gerettet hat.
Ich sagte mir daher: Wer weiß, wofür es gut ist? Meine Entführung ist sicher nicht der Wille Gottes, aber ich bin davon überzeugt, dass sich Gott dessen bedienen kann, um etwas Gutes daraus hervorzubringen. Für Mali, für die Kirche, für den christlich islamischen Dialog in Mali. Und das weiß ich, dass das viele Frucht gebracht hat; ich frage mich selbst, ob ich nicht vielleicht als Gefangener (mit dem Mythos ‚Gefangener in der Wüste‘ nützlicher war für den interreligiösen Dialog in Mali als physisch gegenwärtig in Bamako…“
Warum sagen Sie das? Dass Sie vielleicht nützlicher in der Gefangenschaft waren, für den Dialog?
„Ich hatte im Jahr 2019/20 das Pastoraljahr am Institut für christlich-islamische Bildung gemacht, das von den weißen Vätern geleitet wird und dessen Aufgabe es ist, Christen für die Begegnung mit den Muslimen zu schulen und dafür, Brücken zu bauen zwischen den christlichen und den muslimischen Gemeinden. Denn wenn du den anderen kennst, wenn du keine Vorurteile hast, dann wird dir nicht so schnell jemand eine Bombe in den Garten werfen.
Und in diesem Zusammenhang hatte ich viele Kontakte mit verschiedenen Assoziationen… darunter mit einem „Interreligiösen Friedensrat von Mali“; sein Koordinator ist Issa Traore, ein sehr guter Freund, der gleichzeitig verschiedenen muslimischen Verbänden angehört, zum Beispiel dem „Muslimischen Jugendverband“. Er hat mir nach meiner Freilassung geschrieben, wie froh er doch sei, dass ich jetzt wieder frei bin – und dass er vom ersten Tag an die muslimischen Gruppierungen für meine Freilassung habe beten lassen! Es gab dann auch in den Zeitungen Artikel, Gedichte, Aufrufe von Muslimen, die sagten: ‚Lasst den Pater Ha-Jo wieder frei!‘“
Nun waren Sie also ein Jahr lang in den Händen der Dschihadisten. Wie war das für Sie, wie wurden Sie behandelt? Und wo wurden Sie festgehalten?
„Wo ich genau war, das kann ich nicht sagen; aber zunächst mal war ich in der Sandwüste und später eher im Gebirge… Ich wurde sehr gut behandelt. Ich hatte so eine Art kleinen Unterschlupf: Die hatten vier Pfosten in den Sand gebohrt, und dann kam eine Plane drüber; das war ungefähr einen Meter hoch. Dort habe ich dann wirklich 22 von 24 Stunden liegend verbracht.
Morgens nach dem Gebet um 6:00 Uhr, wenn die Sonne aufging, kam jemand vorbei, holte mein kleines Teekännchen ab und brachte mir dann heißes Wasser zurück, damit ich meinen Kaffee, meinen Nescafé, aufgießen konnte; und um 8:00 gab es frisches, im Sand gebackenes Brot mit einem halben Liter Milch. Gegen 1:00 oder 2:00 Uhr gab es dann Reis, oft mit Fleisch, und abends Nudeln. Die Diät bestand also abwechselnd aus Reis und Nudeln.“
Und die Bewacher? Konnten Sie sich mit denen verständigen?
„Also, in der ersten Zeit, als ich noch im Sahel war, sprachen die Bambara, und da konnte ich mich mit ihnen gut verständigen; einer sprach auch Französisch. Und danach konnte vielleicht einer so ein paar Brocken Französisch, aber sonst sprachen die alle Arabisch, und die hatten auch kein Interesse. Vorher im Sahel, da haben wir jeden Tag nur über den Glauben gesprochen; aber die späteren Bewacher hatten kein Interesse, mit mir zu sprechen. Die kamen und sagten mir, ich solle Muslim werden; ich antwortete: ‚Ich bin Christ, das reicht mir‘, und dann war es damit gut.
Aber ich wurde wirklich sehr gut behandelt. Ich habe kein böses Wort gehört, wurde nicht einmal geschlagen oder sonst etwas. Sehr viel Respekt… Und das ist wichtig: Das sind keine Banditen, sondern das sind Menschen, die glauben, eine Mission zu haben. Und diese Mission besteht darin, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, die auf dem Wort Gottes gründet, dem Koran. Eine Gesellschaft, in der eben nicht gestohlen wird, in der nicht gelogen wird, es wird kein Ehebruch begangen… das wollen sie vertreten…
Ich habe furchtbar gefroren. Nachts sind es null Grad in der Wüste; ich hatte eine dicke Decke und sagte, das reicht nicht. Daraufhin brachte mir jemand anders eine Decke und sagte: ‚So sind wir! Ich gebe dir meine Decke, damit es dir gut geht. Wir sind nicht so wie die Amerikaner, die unsere Leute in Guantanamo auf dem nackten Kachelboden liegen lassen…‘“
Und Ihr Draht nach außen war ein Radio?
„Anfangs, als ich noch im Sahel war bei den Leuten, die Bambara sprachen – da hatte derjenige, der gut Französisch konnte, ein Radio, und das habe ich mir dann abends ausgeliehen. So konnte ich zum Beispiel – das war mein großes Weihnachtsgeschenk, die Messe des Papstes mit seiner Predigt aus Sankt Peter verfolgen und kriegte am 25. Dezember gerade noch den Segen mit. Später dann, als ich eher im Gebirge war, konnte ich regelmäßig die englische und französische Sendung von Radio Vatikan hören: die Neuigkeiten aus der Welt und auch aus der Kirche, die verschiedenen Interviews. Das hat mir wirklich sehr, sehr geholfen, mich auch hier auf einer Mission zu fühlen; ich dachte: ‚Ich bin niemals mehr Missionar gewesen als hier‘.
Und das hat mich eigentlich immer meinen Glauben gut leben lassen. Dadurch, dass ich früher im Noviziat ignatianische Exerzitien gegeben habe, kannte ich die Dynamik auswendig und wusste, welche Bibelstellen an welchem Tag dran sind. Ich habe mir dann selbst Exerzitien gegeben und habe wirklich noch nie in meinem Leben so viele Tage in einer ‚Tröstung‘ verbracht, wie man das in der ignatanischen Sprachweise sagt. Also, von den 371 Tagen der Gefangenschaft habe ich 368 in völligem, tiefem inneren Frieden verbracht.“
Die Freilassung kam überraschend
Wie kam es zu Ihrer Freilassung?
„Irgendwann im November kam einer der Chefs, der uns – also mir und den Bewachern – regelmäßig Wasser und Reis brachte, und sagte nur: ‚Partir Allemagne‘. Nach Deutschland fahren und nichts mitnehmen, nur die Decke, die Medikamente, die Zahnbürste und fertig. Und dann ging‘s los.“
Hintergründe wissen Sie nicht?
„Ich weiß nichts. Ich weiß nicht, was da für Forderungen gestellt wurden – nein, keine Ahnung.“
Was nehmen Sie als Fazit, als innere Summe aus diesem Jahr für sich mit? Für Ihren Glauben, für die Art, wie Sie sind?
„Wenn ich gebetet habe, dann hat mich immer die Stelle angesprochen, wie Petrus auf dem Wasser geht und dann plötzlich versinkt, weil er seine Augen auf den Sturm richtet. Und Jesus sagt zu ihm: ‚Du Kleingläubiger!‘ Ich glaube, dieses Jahr hat mich in dem Glauben wachsen lassen, dass ich jetzt wirklich selbst erfahren habe, dass Gott mich liebt. Dass Gott sich um mich kümmert und dass Gott auch Dinge, die eigentlich schlimm sein könnten, zum Guten wendet.“
Pater Ha-Jo, vielen Dank für dieses Gespräch, und Ihnen alles Gute auch für Ihre weitere Arbeit!
„Danke schön.“
Das Interview mit P. Hans-Joachim Lohre führte Stefan Kempis von Radio Vatikan.
(vatican news)
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