Pizzaballa: „Nur Zweistaatenlösung kann Krieg beenden“
Roberto Cetera und Christine Seuss - Vatikanstadt
In dem langen Interview mit unserem Korrespondenten vor Ort erinnert Kardinal Pizzaballa daran, dass er bereits seit 34 Jahren im Heiligen Land lebt, welches ihm mittlerweile zur Heimat geworden ist. Doch der aktuelle Kriegsausbruch habe auch die Menschen, die an die vereinzelten Scharmützel zwischen Israelis und Palästinensern gewohnt waren, geschockt, während die Ungewissheit über den Ausgang der Situation nach wie vor anhalte.
„Ich habe viele Kriege, Intifadas, Zusammenstöße und so weiter erlebt, aber ich habe keinen Zweifel: Dies ist die schwierigste Prüfung, die wir zu bestehen hatten. Die Ungewissheit besteht nun darin, wie lange dieser Krieg andauern wird, und noch mehr darin, was als Nächstes passieren wird, denn eines ist sicher: Nichts wird mehr so sein wie vorher. Und ich spreche nicht nur von der Politik, ich denke an jeden einzelnen von uns. Dieser Krieg wird uns alle verändern. Es wird lange dauern, bis er verarbeitet ist.“
Andererseits seien die Menschen hier an lange Zeiträume für Veränderungen gewöhnt und übten sich wohl oder übel in Geduld: „Sonst gäbe es keine Erklärung für einen Krieg, der in verschiedenen Formen seit 76 Jahren andauert“, bemerkt der Kardinal.
Für ihn sei ein Ausweg aus diesem Drama nur dann möglich, wenn man den Dialog mit dem anderen suche und auch dessen Schmerz als berechtigt anerkenne, so der Lateinische Patriarch von Jerusalem: „In diesem Land hat in der Vergangenheit jemand Mutigeres den politischen Weg des Friedens versucht. Aber es waren immer Versuche, die von oben nach unten verliefen: Vereinbarungen, Verhandlungen, Kompromisse. Sie sind alle kläglich gescheitert. Denken Sie zum Beispiel an Oslo. Es ist also an der Zeit, die Richtung umzukehren und einen Weg einzuschlagen, der von unten nach oben führt. Ich wiederhole: Es wird anstrengend sein, aber ich sehe keinen anderen Weg“.
Auch Lesart des Westens muss sich ändern
Schließlich seien die Gründe für den Konflikt äußerst komplex und in Jahrzehnten geschichtet, gibt Pizzaballa zu bedenken. Dieses Bewusstsein müsse auch Auswirkungen auf die Lesart des Konfliktes im Westen haben, wo derzeit oftmals eine „törichte“ und auch „gefährliche“ Polarisierung zu beobachten sei. „Es ist falsch, den israelisch-palästinensischen Konflikt mit dem Geist eines Fußballderbys zu behandeln. Auch im Westen besteht die Notwendigkeit, miteinander zu reden, sich zu konfrontieren, sich zu dokumentieren. Außerdem muss man natürlich beharrlich für den Frieden beten.“
Die Rolle der Kirche könne und müsse vor diesem Hintergrund darin bestehen, Beziehungen aufzubauen und zu ermöglichen, gerade angesichts der Tatsache, dass der christlichen Gemeinschaft trotz ihrer kleinen Zahlen großes Gewicht im öffentlichen Diskurs beigemessen werde. Dies sei wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die Christen naturgemäß keiner einzigen Seite zuzuordnen seien – wenn nicht derjenige der Leidenden, für die sie immer einstünden. Auch die Worte des Papstes würden auf allen Seiten mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen.
Neuen Anfang machen
Seiner Ansicht nach müsse jedoch ein ganz neuer Anfang gemacht werden, gibt der Lateinische Patriarch zu bedenken: „Wir müssen einen Punkt setzen und ganz von vorne beginnen, auf einer neuen und anderen Grundlage als in der Vergangenheit. In der Zwischenzeit denke ich, dass alles, was in diesen sechs Monaten geschehen ist, deutlich gezeigt hat, dass die Zweistaatenlösung unausweichlich ist. Es gibt keine Alternative zu den beiden Staaten außer der Fortsetzung des Krieges. Aber die beiden Staaten müssen sich von innen heraus verändern, sie müssen sich selbst neu überdenken. Die beiden Gesellschaften, die sich in den letzten Jahren radikal und schnell verändert haben, müssen den Mut aufbringen, ihre eigene Gesellschaft zu überdenken“.
In dem Interview geht Kardinal Pizzaballa auch auf die kleine christliche Gemeinschaft von etwa 500 Personen ein, die in der lateinischen Gemeinde von Gaza Zuflucht gesucht haben: „Zwei Container mit Lebensmitteln sind gestern eingetroffen, und endlich können sie etwas Nahrhafteres essen. Die Situation bleibt schwierig wegen des psychologischen Gleichgewichts, das nach sechs Monaten Gefangenschaft auf dem Kirchengelände offensichtlich ins Wanken geraten ist. Jeder muss in irgendeiner Form an einer Arbeit zum Wohle der Gemeinschaft beteiligt sein, und das ist wichtig, denn so werden sie davon abgelenkt, über ihren derzeitigen Zustand, die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, und das Gedenken an diejenigen, die es nicht geschafft haben, nachzudenken. Dabei handelt es sich nicht nur um diejenigen, die durch Bomben und Gewehre getötet wurden, sondern auch um diejenigen, die den Mangel an Medizin und Pflege nicht überlebt haben.“
Mittlerweile seien es etwas mehr als 500 Menschen, die in den Räumen der Kirche lebten, während es einige von ihnen in den vergangenen Tagen nicht mehr ausgehalten hätten und sich über Rafah auf den schwierigen Weg aus dem Gaza-Streifen gemacht hätten. Sie hätten enorme Summen für die Reise gezahlt… „Der Mut und die Hingabe, insbesondere der drei Mutter-Teresa-Schwestern, die nie aufgehört haben, sich um behinderte Kinder zu kümmern, sind berührend. Ich hoffe, dass wir bald in der Lage sein werden, diese unsere Brüder und Schwestern zu erreichen und ihnen die Hilfe, die sie brauchen, persönlich zu bringen.“
Nähe und konkrete Hilfe des Papstes
Nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für die Gaza-Christen bedeute die Nähe und Solidarität des Papstes enorm viel, unterstreicht der Italiener, der Franziskus „von ganzem Herzen“ dankt: „Es ist nicht nur eine Nähe der Worte und der Zuneigung, die Papst Franziskus unseren Gemeinschaften vermitteln wollte, sondern auch eine konkrete Hilfe, die uns direkt und mit den Besuchen der Kardinäle Krajewski, Filoni und in den letzten Tagen Dolan zuteilwurde.“
Wiederaufbau wird hart
Die Zeit nach dem Krieg werde „sehr hart“ sein, so der Patriarch angesichts der Zerstörungen im Gaza-Streifen: „Der Wiederaufbau von Gaza wird Jahrzehnte dauern. Es gibt nichts mehr: Häuser, Straßen, Infrastruktur. Es wird eine enorme internationale Anstrengung erforderlich sein. Es ist unvorstellbar, dass die Menschen jahrelang in einem Zelt schlafen müssen. Aber ich glaube, dass ganz allgemein alles wieder aufgebaut werden muss, nicht nur dort, sondern auch in Palästina und Israel.“
Immer wieder wurde das Interview durch den Lärm der israelischen Militärflugzeuge gestört, die auf ihrem Weg zur „confrontation line“ im Norden über Jerusalem hinwegflogen, ein eindringliches Memento der desolaten aktuellen Situation. Zwar sei es nicht Aufgabe der Kirche, eine politische Vermittlerrolle einzunehmen, doch könne sie dabei helfen, Beziehungen zu knüpfen und Verständnis füreinander erwachsen zu lassen, schließt Kardinal Pizzaballa: „Die Kirche fördert den Dialog und die gegenseitige Anerkennung. Und das tun wir in erster Linie in der Gesellschaft, aber auch zwischen den Institutionen als Ausdruck der Gesellschaft.“
(vatican news)
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