Kuba: Karibikperle mit Kratzern

Der Karibikstaat steckt in einer Krise von ungeahntem Ausmaß, sieht sich mit der größten Emigrationswelle seiner Geschichte konfrontiert. Dennoch bemüht sich die Sant'Egidio-Gemeinschaft vor Ort weiter, das größte Elend der Bevölkerung zu lindern. Die katholische Hilfsorganisation setzt auf eine Kultur der Solidarität. Nach dem Motto: „Keiner ist so arm, dass er anderen nicht helfen kann.“ Eine Reisereportage.

Silvia Kritzenberger – Vatikanstadt

Einst als Perle der Karibik gerühmt, erlebt Kuba derzeit die wahrscheinlich schwerste Krise der letzten 64 Jahre. Seit 2021 die historischen Sozialproteste begannen, haben rund 300.000 Menschen die Karibikinsel in Richtung USA verlassen. Es mangelt an allem: Milch, Kaffee, Fleisch, Medikamente – dafür sind Stromausfälle, die manchmal auch mehrere Stunden dauern, inzwischen an der Tagesordnung. Wer im Land geblieben ist, sieht sich mit einer Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelkrise konfrontiert, für die es keine Lösung zu geben scheint. Und seit Kuba während der Coronakrise dicht gemacht hat, bleiben trotz paradiesischer Strände, einer prachtvollen Hauptstadt und der im Vergleich zum Rest der Karibik extrem niedrigen Kriminalitätsrate vielerorts auch die Touristen aus.

Unser Bericht zum Nachhören
Obwohl Kuba ein sicheres Reiseland ist mit freundlichen und hilfsbereiten Menschen und niedrigen Preisen, sind viele Touristen seit der coronabedingten Schließung des Landes auf andere Karibikstaaten ausgewichen
Obwohl Kuba ein sicheres Reiseland ist mit freundlichen und hilfsbereiten Menschen und niedrigen Preisen, sind viele Touristen seit der coronabedingten Schließung des Landes auf andere Karibikstaaten ausgewichen


Die neuen Armen

„Die aktuelle Situation in Kuba ist aus wirtschaftlicher Sicht extrem schwierig, es gibt sehr viel Armut,“ erzählt Innaris Suárez Cárdenas, Leiterin der Sant'Egidio-Gemeinschaft Kuba, im Gespräch mit uns in Havanna. „Seit den Anfängen unserer Gemeinschaft haben wir uns immer um Menschen gekümmert, die unter materieller, emotionaler und geistiger Armut litten. In den letzten Jahren, vor allem während und nach der Coronakrise, sind wir dann auf einmal auch Ärzten, Ingenieuren, und anderen Akademikern begegnet, die uns um Essen baten, was uns sehr überrascht hat. Nun kamen also auch Menschen zu uns, für die es natürlich auch schon vor Covid nicht leicht war, die es aber doch immer geschafft hatten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Situation hat sich also deutlich verschlimmert, die Armut ist nun wirklich überall zu spüren. Und das hat unsere Gemeinschaft veranlasst, nach Lösungen zu suchen, denn – wie unser Gründer Andrea Riccardi zu sagen pflegt –: Die Liebe zu den Armen macht erfinderisch.“

Altstadt von Havanna
Altstadt von Havanna

Ein Motto, das sich Sant'Egidio zu Herzen nimmt. So habe man begonnen, das Bewusstsein für jene zu schärfen, die nichts haben – im Namen einer Kultur der Solidarität, die die Menschen dazu veranlasst, ihre Türen für Bedürftige zu öffnen, so die Ingenieurin aus Kuba:

„Wie unser Gründer Andrea Riccardi gesagt hat, ist niemand so arm, dass er nicht etwas für andere tun könnte. Bei uns wird das Essen oft von älteren Menschen zubereitet, die selbst arm sind, aber trotzdem die Kraft gefunden haben, sich nicht von den eigenen Problemen erdrücken zu lassen, sondern stattdessen anderen zu helfen.“

Strand von Havanna
Strand von Havanna

Kuba: Ein demographisch altes Land

2023 hat die Inflation im Land 30 Prozent erreicht. Im März dieses Jahres musste die kubanische Regierung erstmals das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) um Hilfe bitten, weil sie nicht in der Lage war, Kleinkinder mit Milch zu versorgen - worauf der Karibikstaat eine Notlieferung von 144 Tonnen Milchpulver erhalten hat. Lebensmittelkarten stehen in Kuba zwar jedem zu, aber die Nahrungsmittel, die man dafür bekommt, reichen nicht einmal eine Woche. Ein Arzt verdient ca. 7.000 Pesos im Monat, das sind keine 300 Euro. Um über die Runden zu kommen, haben die meisten zwei oder sogar mehrere Jobs. Wie Europa, ist auch Kuba ein demographisch altes Land und sieht sich derzeit auch noch mit der größten Emigrationswelle seiner Geschichte konfrontiert. Viele alte Menschen, die keine Familie haben oder deren Angehörige ausgewandert sind, sind nun vollkommen auf sich allein gestellt und dringend auf Hilfe angewiesen.

Alte Menschen ohne Familie trifft die derzeitige Krise besonders hart
Alte Menschen ohne Familie trifft die derzeitige Krise besonders hart

Zu den Initiativen, mit denen man jungen Menschen helfen will, ihr Land wieder mit Hoffnung zu betrachten, gehören Ausbildungskurse für zukünftige Unternehmer.

„Wir haben erkannt, dass der private Sektor in Kuba, die neuen Kleinstunternehmen, kleinen und mittleren Unternehmen, eine große Hilfe sein können,“ erzählt uns der kubanische Arzt Rolando Garrido García, Verantwortlicher für Sant'Egidio Miami. „Und so haben wir Kurse über die soziale Verantwortung von Unternehmern auf die Beine gestellt. Es war ein großer Erfolg, und wir konnten Lebensmittel und viele andere Spenden sammeln. Wichtig ist natürlich auch die Unterstützung unseres Mutterhauses in Rom, das uns Medikamente und andere Hilfen schickt.“

Die Leiter von Sant'Egidio Miami und Kuba: Dr. Rolando Garrido Garcia und Ing. Innaris Suárez Cárdenas
Die Leiter von Sant'Egidio Miami und Kuba: Dr. Rolando Garrido Garcia und Ing. Innaris Suárez Cárdenas

Liebe macht erfinderisch

Innaris berichtet, dass man sich auch mit der Idee einer kleinen Genossenschaft für die Sammlung von Abfallmaterialien trage, die von Obdachlosen durchgeführt werden könnte: „Es sind private Unternehmen, aber sie helfen der Gemeinschaft; sie helfen den Armen und sie hinterlassen ihre Spuren in der Gesellschaft. Diese Initiativen sind wichtig, weil die Gefahr besteht, dass wir von einer sozialistischen Gesellschaft, in der alles staatlich verwaltet wird, zu einem ausufernden Konsumismus übergehen, weil die Kubaner nicht wissen, wie sie mit dieser neuen Realität umgehen sollen. Die Gemeinschaft muss den Menschen helfen, diese neue Realität zu leben, ohne dass wir dabei unsere Seele, unser Herz verkaufen. Wir müssen uns darauf verstehen unternehmerisch zu sein, kleine oder große Geschäfte zu machen, ohne dabei die anderen zu vergessen.“

Kuba: Perle der Karibik
Kuba: Perle der Karibik

Die 1968 von Andrea Riccardi in Rom gegründete Gemeinschaft, die heute in mehr als 70 Ländern tätig ist, ist seit 1992 auch in Kuba im ehrenamtlichen und unentgeltlichen Einsatz für die Armen und für den Frieden aktiv.

Miami: ein neues Abenteuer...

1992 wurde Dr. Rolando Garrido García Verantwortlicher für Sant'Egidio Kuba. Kennengelernt hatte er die Gemeinschaft als 22jähriger Medizinstudent. Heute leitet er das Sant'Egidio-Zentrum in Miami, Florida. Seine Eltern waren bereits 1994 dorthin ausgewandert, und auch er hat – nachdem er während der Coronakrise monatelang in den USA festsaß – inzwischen dort seinen festen Wohnsitz. Er arbeitet aber nach wie vor eng mit Sant'Egidio Kuba zusammen, fliegt einmal im Monat in seine alte Heimat. Denn die liegt bei einer Flugzeit von nur 45 Minuten ja praktisch um die Ecke.

Oldtimer: Inoffizielles Wahrzeichen Kubas
Oldtimer: Inoffizielles Wahrzeichen Kubas

Im Gespräch mit uns lässt er die Anfänge seines neuen Abenteuers Revue passieren:
„So entstand die Sant'Egidio-Gemeinschaft Florida, die sich seit drei Jahren jede Woche trifft, um zu beten und den Armen und Obdachlosen von Downtown Miami zu dienen. Viele Kubaner sind angesichts der anhaltenden Versorgungskrise in der Heimat in die USA ausgewandert. Was wir derzeit erleben, ist der größte Exodus von Kubanern in die Vereinigten Staaten. Man schätzt, dass es in ein paar Jahren mehr als 250.000 Kubaner sein werden.“

Auch im reichen Amerika hilft Sant'Egidio Menschen, die verschiedene Situationen der Armut leben.
Auch im reichen Amerika hilft Sant'Egidio Menschen, die verschiedene Situationen der Armut leben.

Arm sein unter den Schönen und Reichen

Papst Franziskus hat das Charisma der Gemeinschaft mit den drei „P“s beschrieben: Gebet, Arme, Frieden (Italienisch: preghiera, poveri, pace). Diesem Grundsatz folgend, kümmert sich die Gemeinschaft auch im reichen Amerika um Menschen, die verschiedene Situationen der Armut leben.

„In Miami ist die schwierigste Realität die der Obdachlosen. Menschen, die unter den Brücken in Downtown Miami leben und für die Gesellschaft unsichtbar sind. Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und aus unterschiedlichen Orten, die es nicht geschafft haben, mit einem unerbittlichen Kapitalismus Schritt zu halten. Menschen, die am Rande des Lebens stehen. Und leider gibt es auf der Straße auch viele Drogen. Als Arzt kann ich sagen, dass Süchte und Abhängigkeiten heute weltweit zu den häufigsten chronischen Krankheiten gehören. Und das betrifft uns alle: denken wir nur an die Beziehung, die wir zu unseren Handys haben. In Miami gelten Obdachlose als Tagediebe, die zu faul sind zum Arbeiten. Aber das stimmt nicht. Jede Woche verteilen wir 250 Lebensmittelpakete; und dabei haben wir viele Menschen kennengelernt, die einfach nur Pech, ein schweres Leben hatten, und irgendwann ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten. In Miami muss man schon für eine winzige Einzimmerwohnung ca. 1.500 Dollar im Monat berappen – und wer da nicht mithalten kann, der passt nicht in diese erbarmungslose Leistungsgesellschaft, ist nicht "effizient" genug.“

In Miami müsse man nur eine Brücke überqueren, um von den tristen behelfsmäßigen Unterkünften der Obdachlosen zu den prächtigen Villen zu gelangen, in denen die Milliardäre leben. Emblem für zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

In Miami trennt nur eine Brücke das Elend der Obdachlosen von der glitzernden Welt der Superreichen
In Miami trennt nur eine Brücke das Elend der Obdachlosen von der glitzernden Welt der Superreichen

 

Alte Menschen lässt man nicht allein

Die Gemeinschaft in Florida stellt den Brüdern und Schwestern in Kuba auch Lebensmittel, Medikamente und andere Spenden zur Verfügung, erklärt Rolando. „Wir haben es nie versäumt, die Armen zu speisen: Es gibt Wochen, in denen wir große Bankette halten können, und Wochen, in denen es nur kleine Snacks gibt. Aber unsere Treue zu den Armen ist ungebrochen. Was unsere Projekte betrifft, so haben wir vor kurzem eine Klinik für Menschen eröffnet, die auf der Straße leben. Viele von ihnen haben chronische Krankheiten, die eine dauerhafte Behandlung erfordern. Im Osten Havannas haben wir seit vielen Jahren auch eine Wohngemeinschaft für ältere Menschen: ein Modell, das zeigt, dass man alte Menschen nicht allein lässt...“

Altstadt von Havanna
Altstadt von Havanna

Kuba und die Päpste

1935 haben der Heilige Stuhl und Kuba offizielle diplomatische Beziehungen aufgenommen. Beziehungen, die seitdem ohne Unterbrechung aufrechterhalten wurden. Drei Päpste haben die Insel in dieser Zeit besucht: Johannes Paul II. 1998, Benedikt XVI. im Jahr 2012 und Papst Franziskus 2015.

„Der Besuch der letzten drei Päpste in Kuba war ein Zeichen dafür, dass es da einen wichtigen Dialog gibt,“ erinnert sich Rolando. „Der heilige Johannes Paul II. wünschte sich, dass Kuba sich der Welt und die Welt sich Kuba öffnen möge. Und diesen Wunsch hatten auch Papst Benedikt und Papst Franziskus. Es ist schön, dass die Päpste, die zu uns gekommen sind, immer um einen Feiertag für die Kirche gebeten haben: den 25. Dezember und den Karfreitag. Aber wie die Leute hier sagen: die Päpste haben uns viel mehr hinterlassen als Feiertage: sie haben uns Hoffnung gebracht.“

Ein denkwürdiger Besuch: Johannes Paul II. in Kuba (1998)
Ein denkwürdiger Besuch: Johannes Paul II. in Kuba (1998)


Wenn Sie die Arbeit der Sant'Egidio-Gemeinschaft in Kuba unterstützen möchten, besuchen Sie die Gemeinschaftsseite www.santegidio.org und geben Sie als Grund für Ihre Spende an: Hilfe für Kuba.

(vatican news – skr)


 

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27. Mai 2024, 08:43