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Die Knesset, das israelische Parlament Die Knesset, das israelische Parlament  (ANSA)

Nahost-Konflikt: „Friedensvertrag für Israels Gesellschaft undenkbar“

Acht Monate nach dem Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel vom 7. Oktober gibt die Situation im Gazastreifen der internationalen Gemeinschaft weiterhin Anlass zur Sorge. Die israelische Gesellschaft ist jedoch allen Friedensbemühungen zum Trotz weit davon entfernt, eine langfristige Lösung für die Koexistenz in Betracht zu ziehen, erklärt Denis Charbit, Professor für Politikwissenschaft an der Open University of Israel.

Jean-Benoît Harel und Christine Seuss - Vatikanstadt

Zwar hat der UN-Sicherheitsrat erst am Dienstag für einen von den USA vorgeschlagenen ambitionierten Plan für eine Waffenruhe und Friedensverhandlungen gestimmt. Inwieweit der völkerrechtlich bindende Plan allerdings umgesetzt werden kann, bleibt fraglich. An diesem Mittwoch war US-Außenminister Antony Blinken in Katar, um dort mit Unterhändlern zu sprechen.

Zum Nachhören - was der Experte sagt

Die Angriffe der israelischen Armee gehen weiter: Auch am Mittwoch wurden durch israelische Angriffe auf Gaza-Stadt mindestens zehn Menschen getötet, während darüber hinaus eine Operation im nördlichen Teil des Flüchtlingslagers Rafah gemeldet wurde. 

Trotz der zahlreichen zivilen Opfer werden die seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober nahezu täglich durchgeführten israelischen Angriffe im Gazastreifen von einem Großteil der israelischen Gesellschaft unterstützt. Diese hofft immer noch auf eine Rückkehr der Geiseln, die sich in den Händen der Hamas befinden. Erst am Samstag wurden mit massiver Waffengewalt vier Israelis befreit, bei dem Einsatz im Flüchtlingsviertel Nuseirat kamen zahlreiche Palästinenser ums Leben.  

Von einem Mega-Pogrom zu einem Friedensvertrag

„Man muss zwischen einem vorläufigen und einem permanenten Waffenstillstand, der einem Friedensvertrag gleichkäme, unterscheiden“, erklärt Denis Charbit, Professor für Politikwissenschaft an der Open University in Israel mit Blick auf die internationalen Friedensbemühungen. Eine große Mehrheit der Israelis befürworte zwar einen vorläufigen Waffenstillstand mit dem Ziel, die Geiseln freizulassen und die Soldaten zu ihren Familien zurückzubringen: „Was die erste Möglichkeit betrifft, so geht es um einen vorläufigen Waffenstillstand, gefolgt von einem dauerhaften Vertrag. Ich denke, dass insgesamt etwas mehr als die Hälfte der Israelis dies befürwortet. Denn solange der Krieg andauert, werden die Geiseln nicht freigelassen. Die Reservisten würden dann weiterhin mobilisiert, aber was die Freilassung der Geiseln betrifft, so würde es trotz allem auf zwei Szenarien hinauslaufen: einige werden, wie wir leider bereits erlebt haben, nicht lebend, sondern in Särgen zurückkehren, andere hingegen werden endlich ihre Angehörigen wiedersehen können.“

Dennoch wünschten sich einige wenige weiterhin eine Fortsetzung des Krieges, um die gesteckten Ziele, insbesondere die vollständige Ausrottung der Hamas, zu erreichen. „Aber für das israelische Volk besteht eigentlich kein Zweifel daran, dass auf einen solchen vorläufigen Waffenstillstand ein dauerhafter und wünschenswerter Waffenstillstand folgen wird“, so die Überzeugung des Professors.

Waffenstillstand ja, Friedensvertrag nein

Ein wirklicher Friedensvertrag für eine friedliche und stabile Koexistenz der beiden Völker stehe jedoch trotzdem nicht auf der Tagesordnung. Nach dem Angriff vom 7. Oktober, der nicht nur eine „Kriegserklärung“, sondern ein deutlicher „Wille zur Ausrottung“ gewesen sei, sei das Misstrauen der Israelis ins Unermessliche gewachsen, womit die Lösung durch einen möglichen Vertrag noch weiter in die Ferne gerückt sei.

„Und ich würde sagen, das betrifft fast alle Strömungen in Israel. Natürlich ist das Misstrauen rechts größer als in der Mitte oder links, aber auf jeden Fall ist das Misstrauen groß - und damit auch der Übergang von einem Mega-Pogrom zu einem Friedensvertrag, bei dem beide Seiten sozusagen Vertragspartner wären. Das alles wird wie eine schöne Utopie erlebt, wunderschön, außergewöhnlich, aber man sieht nicht, wie man sie erreichen kann. Und um einen Friedensvertrag auszuhandeln, muss man einen Gesprächspartner finden. Wer ist denn heute der Gesprächspartner Israels? Es gibt die Palästinensische Autonomiebehörde, aber es ist nicht klar, was sie tut. Sie wird übrigens in erster Linie von den Palästinensern, aber eben auch von den Israelis nicht mehr ernstgenommen.“

Ohne einen wirklichen Gesprächspartner und angesichts einer Terrororganisation, die in Gaza das Sagen habe, sei es schwierig, eine Diskussion über die Zukunft zu führen, erklärt der Politologe.

„Und wo ist denn die alternative palästinensische Führung? Für die Israelis wäre es die entscheidende Voraussetzung, dass man weiß, wer die Partner sind, wer die politische Führung ist, die in der Lage ist, sich mit einem an einen Tisch zu setzen und einen Kompromiss zu schließen. Daran glauben wir sehr, sehr wenig, auch wenn wir es uns wünschen.“

Das gegenseitige Verständnis füreinander habe jedenfalls sehr gelitten, nicht zuletzt aufgrund der Anzeichen für die Unterstützung der Terroraktionen der Hamas durch die palästinensische Bevölkerung. „Was diese Zurückhaltung der Israelis erklären könnte, sind die Zivilisten, die dem Massaker applaudierten, die applaudierten, als die Terroristen mit ihren Opfern auf ihren Motorrädern zurückkehrten, die versuchten, das Auto des Roten Kreuzes zu blockieren, in dem sich die Geiseln befanden, die im November freigelassen werden sollten...“, führt der Professor aus.

Eine komplexe und weit entfernte Lösung

Als Befürworter einer Zwei-Staaten-Lösung, die auch von der Diplomatie des Heiligen Stuhls vertreten wird, zählt Denis Charbit die konkreten Hindernisse auf, die es den Israelis letztlich schwer machten, den Frieden zu verfolgen.

„Auf dem Papier sieht es immer schön und einfach aus, aber das ist es nie, vor allem nicht, wenn es um diese Frage geht, die für die Organisation einer Gesellschaft, die für Ordnung sorgt, von entscheidender Bedeutung ist. Denn was derzeit im Gazastreifen passiert, da bemüht sich die israelische Regierung eher um militärische und nicht so sehr um zivile Belange. Die Hamas ist also in ihren Tunneln. Und so sind es natürlich mafiöse Netzwerke, die Lebensmittel zu Wucherpreisen verkaufen. So läuft es leider immer in solchen Situationen ab...“

Aus seiner Sicht sei die Frage der Aufrechterhaltung der Ordnung im Gazastreifen beispielsweise ein kaum angesprochenes, aber umso wichtigeres Thema.

„Und die große Frage ist, wer tritt an diese Stelle, wer stellt eine Ordnung her, mit der wohlgemerkt die israelische Armee und der Staat Israel leben können. Das heißt, es ist nicht so, dass die Hamas die Dinge wieder in die Hand nehmen kann, als ob nichts geschehen wäre. Ich würde sogar sagen, dass man nicht allzu viel darüber spricht, denn wenn man das sieht, sagt man sich: ,Wir werden es nie schaffen, das in Ordnung zu bringen'. Aber gleichzeitig gibt es amerikanische Interessen, die bevorstehenden Wahlen, den Willen, trotz allem einen Krieg zu beenden, der gnadenlos ist. Das kann niemand bestreiten. Auch nicht in Israel.“

Hunderttausende Reservisten warteten darauf, mit Kriegsende nach Hause zurückzukehren, doch ein einseitiger Rückzug, das habe man 2005 gesehen, sei die schlechteste aller Lösungen gewesen, habe die Hamas doch so die Gelegenheit gehabt, ihre weitverzweigten Tunnelsysteme anzulegen und aufzurüsten, erläutert der Professor die israelische Position. Doch selbst wenn der Konsens für einen Frieden bestünde, sei schwer vorstellbar, dass damit alle besetzten Gebiete zurückgegeben und Siedlungen aufgelöst würden.

„Die Freiheit ist wunderbar, sie ist großartig. Die Besetzung ist keine gute Situation, die Blockade auch nicht. Aber durch was soll man sie ersetzen?“, so die große Frage, auf die auch die Internationale Gemeinschaft trotz aller Bemühungen bislang keine Antwort hat.

Die Befreiung der Geiseln

Auch nach acht Monaten ist die israelische Gesellschaft immer noch traumatisiert von dem Angriff am 7. Oktober und den zahlreichen Toten. Vor allem das Schicksal der Geiseln, die sich noch immer in den Händen der Hamas-Terroristen befinden, sorgt für Empörung unter den Bewohnern des jüdischen Staates. „Selbst die moderatesten Israelis sagen: ‚Solange die Geiseln nicht frei sind, verlangen Sie nicht, dass wir Mitgefühl mit den Palästinensern haben‘,“ sagt Denis Charbit.

Der Umgang mit den Geiseln werde letztlich wohl auch den Grund für den politischen Sturz von Benjamin Netanjahu liefern, der hingegen nicht so sehr für seine Art der Kriegsführung kritisiert werde, erklärt Denis Charbit. „Es gibt viele in Israel, die Netanjahu endgültig und ewig vorwerfen werden, dass er die Freilassung der Geiseln nicht zu einer Priorität gemacht hat, dass er nicht gesagt hat, dass man den Krieg auch später noch führen kann“, betont er. Die blutige Befreiung der vier Geiseln am Wochenende kam Netanjahu nach einer langen von Erfolglosigkeit geprägten Phase in diesem Zusammenhang allerdings sehr gelegen, wurde er doch insbesondere dafür kritisiert, trotz der israelischen Überlegenheit keine Geiseln mehr befreit zu haben.

Der amerikanische Plan

In der Hoffnung, eine Lösung für den Konflikt zu finden, hatte US-Präsident Joe Biden einen ambitionierten Plan vorgestellt, den er als „Fahrplan für einen dauerhaften Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln“ bezeichnete und der einen Frieden in drei Stufen vorsieht. Premierminister Benjamin Netanjahu stimmte der Erörterung dieses Plans zu, trotz der absoluten Opposition der religiösen extremen Rechten, die Mitglied der von ihm geführten Koalition ist. Am Dienstag erhielt der Plan im Sicherheitsrat die Zustimmung der Mitgliedsstaaten, Russland als Veto-Macht hat sich bei der Abstimmung enthalten.

Innenpolitische Unruhe

Unterdessen hat sich auch innenpolitisch in Israel einiges getan, der ehemalige General und Minister Benny Gantz hat am Sonntagabend seinen Rückzug aus der Regierung bekanntgegeben. Damit könnte auch das extreme religiöse Lager in Israel Aufschwung erhalten, welches jedoch eine Einigung auf den Friedensplan mit einem Waffenstillstand als Einknicken der Regierung betrachten könnte, noch bevor das Ziel der Ausrottung der Hamas erreicht worden sei. Sollten diese Koalitionspartner dann die Regierung verlassen, könne man mit zwei möglichen Szenarien in Israel rechnen, so der Politologe:

„Das erste ist, dass es zu einer Auflösung der Knesset kommt, also die Ankündigung der allgemeinen Wahlen; und nach israelischem Recht bleibt die Regierung dann eingefroren, also selbst wenn sie gehen wollten - wenn sie es nicht früh genug getan haben - nun, dann müssen sie in der Regierung bleiben. Das würde es Netanjahu also ermöglichen, mit seiner Koalition zu bleiben, auch wenn es diesen Dissens um die Umsetzung gibt, die auf jeden Fall einige Wochen dauern wird, mit vorläufiger Waffenruhe, Freilassung der Geiseln, Rückzug der israelischen Armee.“ Die zweite Möglichkeit könne darin bestehen, dass die extreme religiöse Rechte zwar gehe, aber durch die Abgeordneten der von Benny Gantz geführten Zentrumspartei ersetzt werde – allerdings eine Möglichkeit, die nach dem Rückzug Gantz‘ aus der Regierung wohl unwahrscheinlicher wird.

„Und so glaube ich, dass alle Israelis - Linke, Rechte, Religiöse, Säkulare ohne Unterschied, Juden, Araber - sich in der Unvermeidlichkeit allgemeiner Wahlen einig sind. Wir können nicht bis zur nächsten Wahl warten, die für November 2026 angesetzt ist. Nach einer solch enormen Prüfung... Die Menschen sind niedergeschlagen, die Menschen sind traurig, sie sind deprimiert, sie verhalten sich nicht wie Sieger... Und so sagt jeder, dass es Neuwahlen geben muss.“

Neuwahlen wahrscheinlich

Für den Professor für Politikwissenschaft ist es letztlich Benny Gantz, ehemaliger Stabschef der israelischen Armee und zentristischer Abgeordneter, der laut Umfragen am ehesten in der Lage wäre, die Israelis zu vereinen und „die Interessen Israels aus einer rationaleren Sicht heraus zu verteidigen“.

Doch Charbit warnt auch vor überzogenen Erwartungen: „Werden sie die Kühnheit besitzen, über einen palästinensischen Staat zu diskutieren? Ganz ehrlich, ich glaube das nicht. Die Israelis sind noch nicht bereit, das zu hören.“

Anmerkung: Das Interview mit dem Professor wurde am 7. Juni geführt.

(vatican news)

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12. Juni 2024, 13:07