Demonstranten mit Putin- und Biden-Masken 2021 in Berlin Demonstranten mit Putin- und Biden-Masken 2021 in Berlin  (AFP or licensors)

Atomare Rüstungsspirale dreht sich weiter

Der nukleare Rüstungswettlauf ist weit davon entfernt, an Fahrt zu verlieren. Innerhalb von fünf Jahren sind die Ausgaben für Atomwaffen um mehr als 30 % in die Höhe geschnellt. Bis 2023 werden die neun Mächte, die über Atomwaffen verfügen, 91 Milliarden US-Dollar investiert haben.

Delphine Allaire und Stefan v. Kempis - Vatikanstadt

An erster Stelle bei diesen Ausgaben stehen die USA, gefolgt von China und Russland. Danach folgen Großbritannien und Frankreich. Das ergibt sich aus zwei Berichten, die Ende Juni vom Internationalen Friedensforschungsinstitut Sipri in Stockholm und von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) publiziert wurden.

Papst Franziskus setzt sich immer wieder für ein weltweites Verbot von Atomtests und –waffen ein und propagiert Dialog statt Abschreckung. „Eine Welt ohne Atomwaffen ist möglich und notwendig“, sagte er am 19. September 2023 bei einem Kolloquium der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften und des Friedensforschungsinstitut Oslo im Vatikan.

Benoît Pélopidas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Stanford und Gründer eines Pionierprogramms zur Erforschung nuklearen Wissens an der Pariser Elite-Hochschule „Sciences Po“. Er erklärt die Ausgabensteigerungen fürs Nukleare so:

„Wir befinden uns in einem Zustand der nuklearen Verwundbarkeit“

„Wir befinden uns in einem Zustand der nuklearen Verwundbarkeit. Alle neun Atomwaffenstaaten setzen auf eine Rhetorik der nuklearen Abschreckung, die als Schutzrhetorik dargestellt wird. Das erste, woran man sich erinnern sollte, ist, dass es seit der Kopplung ballistischer Raketen mit thermonuklearen Sprengstoffen nicht mehr möglich ist, unsere Bevölkerung vor einer nuklearen Explosion zu schützen, sei es absichtlich, versehentlich oder zufällig. Der Grund für die Frage nach der Erhöhung der Budgets für Atomwaffen ist also nicht einfach, dass es sich da um große Budgets handelt. Viel wichtiger ist, dass es einerseits keinen Schutz mehr vor dieser Art von Explosion gibt. Und andererseits - das ist ein Ergebnis meines Teams -, konnten wir zeigen, dass wir in der bisherigen Nukleargeschichte in einigen besonderen Fällen, wie der Kuba-Krise oder einigen Episoden in den 1980er Jahren, ungewollte Nuklearexplosionen nicht durch ach so gute Kontrollpraktiken, sondern nur durch Glück verhindert haben…“

Wir sollten uns immer daran erinnern, „wie verwundbar wir sind“, so der Forscher, „und wie begrenzt unsere Kontrolle über diese Waffensysteme ist“. Leider neigten die Regierungen der Atomstaaten dazu, „die Kontrolle, die wir über diese Waffensysteme haben, zu überschätzen“. Von den 91 Milliarden US-Dollar, die in diesem Jahr für die nukleare Rüstung ausgegeben werden, entfallen allein auf die USA 51,5 Milliarden US-Dollar – also mehr als die Hälfte. An zweiter Stelle steht China mit 11,9 Milliarden US-Dollar, das ist deutlich weniger.

Parade mit ballistischen Raketen 2022 auf dem Roten Platz in Moskau
Parade mit ballistischen Raketen 2022 auf dem Roten Platz in Moskau

USA und Russland halten mehr als 90% aller Atomsprengköpfe

 

„Die USA und Russland halten mehr als 90% aller Atomsprengköpfe auf dem Planeten. Allerdings sind selbst die sogenannten kleinen Atomwaffenarsenale groß genug, um durch das Phänomen des nuklearen Winters das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, herbeizuführen. Oft denkt man, dass diese Arsenale so groß sind, dass es nicht möglich wäre, sie aufzulösen. Doch muss man bedenken, dass wir in den Jahren 1986-1996 weltweit mehr Atomsprengköpfe abgebaut haben, als heute noch vorhanden sind. Auch ohne technologischen Fortschritt wären wir in der Lage, alle verbleibenden Arsenale in weniger als zehn Jahren abzubauen, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre. Es gibt keine materielle Unmöglichkeit der Demontage!“

Wie viele Atomwaffenarsenale sind auf nationaler und internationaler Ebene sozusagen notwendig? Das ist aus Pélopidas Sicht eine wichtige ethische und politische Frage. Eine weitere Frage könnte lauten: Schaffen internationale Spannungen eine Nachfrage, oder schafft die Existenz von Atomwaffen selbst Spannungen? Dazu sagt der Forscher, dass es bei der Betrachtung der in den USA, Russland, Frankreich und Großbritannien angehäuften Arsenale „eine systematische Diskrepanz zwischen der vorgebrachten Rechtfertigung und den tatsächlich vorhandenen Arsenalen“ gebe.

Obama bei einer Rede 2011
Obama bei einer Rede 2011

 

Obama und eine schöne Rede

„Zum Beispiel sind wir für Russland und die Vereinigten Staaten sehr weit über das hinaus, was die Generalstäbe dieser Staaten als Erfordernis der nuklearen Abschreckung darstellen… Im Mai 2009 hat US-Präsident Barack Obama in Prag angekündigt, dass er auf eine Welt ohne Atomwaffen hinarbeiten wolle. Nur wenige Monate nach der Prager Rede stellte die Obama-Regierung dann aber 80 Milliarden US-Dollar über einen Zeitraum von zehn Jahren bereit, um den gesamten Atomkomplex der USA zu erneuern… Sein Nachfolger Donald Trump, den man sich ja eigentlich als Antipoden zu Obama vorstellt, hat den von der Obama-Regierung aufgestellten Plan zur Modernisierung der Atomkraft tatsächlich kaum verändert.“

Das Beispiel zeige, dass in diesem Fall die „Renuklearisierung der US-Politik“ Anfang der 2010er Jahre begonnen habe, also deutlich vor der Verschlechterung der internationalen strategischen Beziehungen. Dasselbe könne man für Russland, China und Frankreich sagen. „Die Vorstellung, dass es die Verschlechterung der internationalen Beziehungen ist, die die Nuklearisierung rechtfertigt und initiiert, ist daher nur ein historischer Irrtum.“

US-Atomtest vom Juli 1946
US-Atomtest vom Juli 1946

Zwei Visionen von Politik und Ethik

Eigentlich gibt es seit Anfang 2021 einen internationalen Atomwaffen-Verbotsvertrag. Der Schönheitsfehler ist nur: Kein einziger Atomwaffenstaat hat den Text unterzeichnet. Pélopidas spricht von einer „ethischen Bruchlinie“ zwischen Staaten, die über Atomwaffen verfügen, und den nuklearen Habenichtsen.

„Ethisch gesehen haben Sie auf der einen Seite eine Koalition, die sagt: ‚Wir fühlen uns wir im Namen unserer Vorstellung von nationaler und internationaler Sicherheit verpflichtet, uns auf einen Massenmord an einer Zivilbevölkerung vorzubereiten‘. Und Sie haben eine andere Koalition, die sagt: ‚Ungeachtet der Konsequenzen werden wir uns zu keinem Zeitpunkt darauf vorbereiten oder uns dazu in die Lage versetzen, ein Massenverbrechen zu begehen, selbst wenn die Konsequenz daraus die Gefährdung unserer nationalen Sicherheit ist‘. Das Ergebnis der Konfrontation zwischen diesen beiden Visionen von Politik und Ethik wird über das Geschick der Welt entscheiden.“

Für eine Welt ganz ohne Atomwaffen tritt Papst Franziskus ein
Für eine Welt ganz ohne Atomwaffen tritt Papst Franziskus ein

Gegen die „Nuklearisierung der Welt“

Der Forscher hält es für wichtig, über die Gesamtheit der Auswirkungen einer, wie er sie nennt, „Nuklearisierung der Welt“ nachzudenken. In dieser Hinsicht seien die Ergebnisse der unabhängigen Forschung von großer Bedeutung.

„Lange Zeit wurden die Auswirkungen der Atomtests unterschätzt. Seit Beginn des Atomzeitalters gab es mehr als 2.000 Nuklearexplosionen, von denen mehr als 500 in der Atmosphäre stattfanden, und ihre Tests hatten Auswirkungen auf die Kontamination der Biosphäre. Ein Mitglied meines Teams hat beispielsweise gezeigt, dass die (französischen) Atomtests in Polynesien dazu geführt haben, dass mehr als 90.000 Polynesier … über ein Maß hinaus kontaminiert wurden, das sie nach französischem Recht zu einer Entschädigung berechtigen würde. Die unabhängige Forschung hat das Wissen über diese Auswirkungen erst möglich gemacht. Eine andere Art von unterschätzten Auswirkungen ist die auf die Demokratie. Thomas Fraise hat gezeigt, dass die nukleare Rüstungspolitik in den Staaten, die sie umsetzen, zur Schaffung von Geheimnis-Nischen führt, wodurch die Qualität der in diesen Staaten möglichen Demokratie verschlechtert wird. Dies stützt sich auf eine Untersuchung des britischen, amerikanischen, französischen und schwedischen Falls.“

(vatican news)
 

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04. Juli 2024, 11:03