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Der ukrainische Großerzbischof von Kyiv, Swjatoslaw Schewtschuk Der ukrainische Großerzbischof von Kyiv, Swjatoslaw Schewtschuk 

Schewtschuk: Trotz allem Schmerz hat das Volk Hoffnung

Der ukrainische Großerzbischof von Kyiv, Swjatoslaw Schewtschuk, spricht von Trauer, aber noch mehr von Hoffnung, als er die tausend Tage des Krieges Revue passieren lässt, der sein Land seit Februar 2022 in Atem hält. Im Interview mit den vatikanischen Medien ruft er dazu auf, die Ukraine nicht im Stich zu lassen: „Lasst uns nicht allein“, sagt er. „Seid an unserer Seite, auch wenn ihr schweigt“.

Svitlana Dukhovych und Stefanie Stahlhofen - Vatikanstadt 

Eure Seligkeit, welche Gefühle herrschen unter den Menschen in der Ukraine nach 1.000 Tagen Krieg in vollem Umfang, auch wenn man die russischen Angriffe der letzten Woche bedenkt?

Einerseits ist da ein tiefes Gefühl der Traurigkeit. Die Menschen sind sehr betrübt, weil wir jeden Tag mit eigenen Augen das schreckliche Gesicht des Todes und der Zerstörung sehen müssen. Andererseits, wenn man sieht, wie wir diese 1.000 Tage überlebt haben, überwiegt das Gefühl, ja die Tugend, die Fähigkeit, Hoffnung zu haben. Denn ohne Hoffnung ist es heute unmöglich, in der Ukraine weiterzuleben. Wenn wir sehen, wie die Arbeiter der ukrainischen Energieinfrastruktur nach einem Raketenangriff, nach jeder Zerstörung, wieder von vorne anfangen und nach ein paar Stunden versuchen, den Schaden zu beheben, wenn wir unsere Ärzte sehen, die trotz der Gefahren helfen, Menschen aus zerstörten Häusern herauszuholen, Leben zu retten, dann gibt es neben dem Schmerz auch Hoffnung. Die Hoffnung von Menschen aus verschiedenen Berufen, verschiedenen Teilen der Gesellschaft, verschiedenen sozialen Gruppen in der Ukraine.

„Wenn wir unsere Ärzte sehen, die trotz der Gefahren helfen, Menschen aus zerstörten Häusern herauszuholen, Leben zu retten, dann gibt es neben dem Schmerz auch Hoffnung“

Viele Ukrainer sagen, dass der Krieg sie sehr verändert hat. Welche Veränderung oder Wandel erlebt die Kirche in der Ukraine Ihrer Meinung nach? Und welche dieser Erfahrungen könnten mit Katholiken auf der ganzen Welt geteilt werden?

Als der Krieg ausbrach und wir uns plötzlich im Bombenhagel fanden, erlebten wir einen tiefen Schock. Viele Psychologen und Sozialwissenschaftler, aber auch wir vom spirituellen her, sind einig, dass dieser Schock eine Art Neustart war: In einem einzigen Moment brachen alle menschlichen Beziehungen zusammen, alles, was wir bis dahin verstanden, gewusst, erlebt hatten, wurde zerstört. Das bewirkte auch eine Erneuerung, denn wir mussten unsere Beziehungen erneuern, vor allem zu uns selbst, jeder musste neu verstehen: „Wer bin ich? Was muss ich tun?“.  Alle Masken, alle Äußerlichkeiten fielen, ein tiefes Verständnis für den Menschen in seiner Größe und auch in seiner Schwäche kam zum Vorschein. Diese Umwälzung führte auch zu einem weiteren Phänomen: Dem Verlust und der Wiederherstellung einer Beziehung zu Gott. Wenn man eine Bombardierung erlebt, wenn man sieht und spürt, wie das eigene Haus wackelt, und wenn man den schrecklichen Bombenknall hört, dann ist es, als ob man sich in einer spirituellen Dunkelheit befindet, man schreit: „Herr, wo bist du? Warum hast du mich verlassen?“ -  wie Jesus am Kreuz. Doch dann wird dieser Gott, der in einem Moment der Dunkelheit verschwunden zu sein schien, gegenwärtig, und die Kirche wird Zeuge eines Phänomens tiefgreifender Bekehrung. Eine Bekehrung von Priestern, Bischöfen, Mönchen, Gläubigen.

Gott als Quelle des Lebens wiederentdecken

Gott als Quelle des eigenen Lebens wiederentdecken, und das inmitten einer Katastrophe, einer Nacht des Schmerzes. Das ist der Sinn des spirituellen und kirchlichen Lebens: Verlieren und wiederfinden, durch die Zerstörung gehen und sich dann in einer anderen Welt, einer anderen Gesellschaft, einem anderen Land wiederfinden. Alle sagen also, dass es diese Ukraine, die viele vor dem 24. Februar 2022 kannten, nicht mehr gibt. Wir müssen dieses Volk, dieses Land, die Kirche Christi wiederentdecken, die inmitten des Volkes präsent ist.

Das wertvollste Geschenk Gottes ist das Leben. In der Ukraine trauern so viele Familien um geliebte Menschen, die an der Front gefallen oder bei den Bombenangriffen ums Leben gekommen sind. Wie kann die Kirche den Menschen helfen, das Leben zu lieben und zu schützen?

„Man kann einem Jungen, der seine Beine verloren hat, nicht sagen: ,Ich verstehe dich`“

In dieser Lage haben wir das Gefühl, in ein Meer der Trauer einzutauchen. Der menschliche Schmerz ist ein Mysterium, und die Kirche folgt den Spuren Jesu Christi, der in der Lage war, in die Tiefen des menschlichen Schmerzes einzudringen und dann den Weg hinaus zu zeigen. Wir haben ein paar Dinge gelernt. Erstens: Man sollte es nicht eilig haben, zu sagen: „Ich verstehe dich“. Viele Menschen aus dem Ausland, sogar Freunde, sagen uns: „Wir verstehen dich", aber diese Worte bereiten uns tiefen Schmerz, denn man kann einem Jungen, der seine Beine verloren hat, nicht sagen: „Ich verstehe dich". Zweitens ist es sehr wichtig, da zu sein, auch wenn wir nichts sagen können. Das Sakrament der Gegenwart ist wichtig. Wir bitten: „Sei still, aber sei an unserer Seite. Lasst uns nicht allein“. Die Gegenwart der Kirche ist ein Sakrament, das die reale Gegenwart des Herrn inmitten seines Volkes sichtbar macht. Der dritte und wichtigste Punkt ist die Kraft des Wortes. Es bringt die Kraft Gottes, das Leben, die Hoffnung, die Fähigkeit, unsere menschlichen und geistigen Ressourcen zu erneuern. Das Wort des Evangeliums ist wirklich Leben. Das ist keine Phrase oder Metapher: Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass dieses Wort, wenn ich das Wort Gottes verkündete, Menschen buchstäblich zum Leben erweckte. Ein Wunder!

Woher die Hoffnung auf Frieden nehmen?

Eure Seligkeit, in vielen Interviews hören wir von den Ukrainern, dass sie sich als erste nach Frieden sehnen, aber leider scheinen die aktuellen Ereignisse dieses Ziel immer weiter zu entfernen. Woher kommt die Hoffnung, dass ein gerechter und dauerhafter Frieden für das gemarterte Land kommen kann?

Wir haben erfahren, dass diese Quelle der Hoffnung nicht außerhalb der Ukraine, im Ausland, liegt, sondern in uns selbst. Man hat uns anfangs nur drei Tage gegeben ... und jetzt sprechen wir über den 1.000sten Tag eines sinnlosen, blasphemischen, frevelhaften Krieges. Wir haben gesehen, dass es in unserem Inneren eine sprudelnde Quelle des Widerstands, der Widerstandsfähigkeit und der Hoffnung gibt, die zu einem politischen, militärischen und diplomatischen Problem wird.

„Wir haben gesehen, dass es in unserem Inneren eine sprudelnde Quelle des Widerstands, der Widerstandsfähigkeit und der Hoffnung gibt, die sicherlich nicht nur menschlichen Ursprungs ist“

Der Aggressor will diese sprudelnde Quelle auslöschen, er will nicht anerkennen, dass sie existiert, er will sie mit Raketen, Bomben, Panzern zerstören. Und manchmal bereitet diese Quelle der Hoffnung auch den Politikern Probleme, viele sehen die Ukraine als Problem. Aber sie verstehen nicht, dass in dieser Quelle die Lösung für so viele Ungerechtigkeiten, für so viele Situationen der modernen Welt liegt, die den Verlust ihrer Menschlichkeit erlebt. Sogar die Diplomaten sind durch diese Quelle der Hoffnung und der Resilienz in der Ukraine herausgefordert, sie suchen nach verschiedenen Formeln für den Frieden, nach Formeln für politische Verhandlungen, aber bisher haben sie sie nicht gefunden. Ich denke, dass diese Quelle sicherlich nicht nur menschlichen Ursprungs ist: Jeden Tag sehen wir, wie unsere menschlichen Kräfte schwinden und dann wieder erneuert werden. Es gibt immer einen Funken Leben.

(vatican news - sst) 

 

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19. November 2024, 16:40