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Papst Franziskus auf dem Petersplatz Papst Franziskus auf dem Petersplatz 

Papstschreiben zu Christsein heute: „Heiligkeit wächst durch kleine Gesten“

„Hab keine Angst vor der Heiligkeit“: Diesen inoffiziellen Titel könnte das neue Papstschreiben tragen. Es erläutert das Christsein für das 21. Jahrhundert. Der Vatikan hat es an diesem Montag vorgestellt.

P. Bernd Hagenkord - Vatikanstadt

Ein neues Papstschreiben, ein neues Thema. Oder auch nicht. Denn was Papst Franziskus der Kirche heute als Lehrschreiben vorlegt und was das Thema „Heiligkeit” hat, das vereint in Wirklichkeit sehr viel von dem, was der Papst vorher schon in Predigten und Ansprachen gesagt hat. Nur ist es jetzt einmal systematisiert zusammen gefasst.

Bereits im zweiten Absatz steckt die Absicht der Papstes: Es geht ihm nicht „um eine Abhandlung über die Heiligkeit“, ganz in der Art und Weise, wie er auch sonst nicht über etwas spricht, sondern zu jemandem. Er will den Ruf zur Heiligkeit heute „mit seinen Risiken, Herausforderungen und Chancen Gestalt annehmen lassen.“

 

Christsein im 21. Jahrhundert

 

Wenn alle Christen zur Heiligkeit berufen sind und es dem Papst um das Hier und Heute geht, dann geht es ihm um nichts weniger als um Christsein im 21. Jahrhundert.

Drei Dimensionen nennt der Papst gleich vorweg, in den ersten Punkten. Zum einen betont er, dass Heiligkeit nichts Individuelles ist. Es gibt keine Heiligkeit ohne Zugehörigkeit, Gott erlöst und heiligt nicht Einzelne, sondern Menschen in ihren sozialen Beziehungen.

Zweitens spricht der Papst von der „Mittelschicht der Heiligkeit“. Es sind nicht immer nur die großen und bekannten Gestalten, die heilig sind. Sondern auch die unerkannten und stillen, die „normalen“, eben die Mittelschicht. Und drittens ist ihm die Ökumene sehr wichtig. Heilige gibt es überall im Christentum, zum Beispiel im gemeinsamen Martyrium, aber nicht nur da. Heiligkeit spricht immer auch von der Einheit aller Christen.

 

„Mittelschicht der Heiligkeit“

 

„Auch für dich“: es ist eine Zwischenüberschrift, welche die Sprechrichtung des Textes noch einmal präzisiert. Dem Papst ist wichtig, dass hier nicht Modelle kopiert werden, sondern Inspiration gefunden wird. „Lass zu, dass die Taufgnade in dir Frucht bringt auf einem Weg der Heiligkeit. Lass zu, dass alles für Gott offen ist, und dazu entscheide dich für ihn, erwähle Gott ein ums andere Mal neu. Verlier nicht den Mut, denn du besitzt die Kraft des Heiligen Geistes, um das möglich zu machen.“

Und so ist auch der Weg zur Heiligkeit keine Kraftanstrengung für Über-Christen: „Diese Heiligkeit, zu der der Herr dich ruft, wächst und wächst durch kleine Gesten.“ Und so ist der Papsttext über weite Strecken eine Meditation über den Weg, das eigene Christsein zu leben und das, was Gott in der Taufe in den Menschen hinein gelegt hat, sichtbar und wirksam werden zu lassen. Eine Meditation für alle, nicht nur für Spezialisten des Christlichen.

Heiligkeit bleibt aber nicht beim Einzelnen stehen, sie hat eine innere Dynamik, oder auf Christlich gesagt: eine Sendung. Sie ist nicht für den Christen da, sondern will weiter wirken. Jeder Heilige ist „eine Botschaft“, sagt der Papst, oder mit einem anderen Wort ausgedrückt: eine „Sendung“.

„Versuche dies, indem du Gott im Gebet zuhörst und die Zeichen recht deutest, die er dir gibt. Frage immer den Heiligen Geist“

„Versuche dies, indem du Gott im Gebet zuhörst und die Zeichen recht deutest, die er dir gibt. Frage immer den Heiligen Geist, was Jesus von dir in jedem Moment deiner Existenz und bei jeder Entscheidung, die du treffen musst, erwartet, um herauszufinden, welchen Stellenwert es für deine Sendung hat.“

Immer wieder versucht der Papst, Zerrbilder des Heiligen zurecht zu rücken. Etwa eine Heiligkeit, die mit Zurückgezogenheit und Weltfremdheit einher geht. Oder eine Heiligkeit, vor der man eher zurückschreckt, weil sie zu überfordern droht. Heiligkeit nimmt uns nichts weg, im Gegenteil, betont Franziskus, „du wirst dabei zu dem Menschen werden, an den der Vater dachte, als er dich erschaffen hat, und du wirst deinem eigenen Wesen treu bleiben.“

 

Die Gegner der Heiligkeit

 

Franziskus wäre aber nicht Franziskus, würde er nicht auch die Gegner der Heiligkeit ausmachen und benennen, die „Feinde der Heiligkeit“, subtile Versuchungen wider den Geist. Es sind seine alten Gegner, der Pelagianismus und der Gnostizismus in ihrer heutigen Ausprägung.

Christlichkeit werde in Nächstenliebe „gemessen“, nicht in gesammelten Mengen von Information und Wissen, sagt er gegen den Gnostizismus. Heiligkeit bestehe eben nicht im Verstehen von Lehren. Ein solcher Individualismus sehe seine eigene Sicht der Wirklichkeit als vollkommen an. Christen können aber nicht „beanspruchen, dass unsere Art, die Wahrheit zu verstehen, uns ermächtigt, eine strenge Überwachung des Lebens der anderen vorzunehmen.“

Gegner Nummer zwei ist der Pelagianusmus; wenn der Gnostiker im Verstand die oberste Instanz sieht, dann sieht der Pelagianer sie im Willen, in der eigenen Anstrengung. Dagegen setzt der Papst und setzt der Glaube das Handeln Gottes, die Gnade. Nur wer die Grenzen des eigenen Willens und des eigenen Tuns anerkenne, lasse dem Geist Gottes Raum. Wer alles durch eigene Anstrengung schaffen wolle, verleugne letztlich diese Gnade, dieses Wirken Gottes. Franziskus greift hier das Wort des Apostels Paulus auf, das für die lutherische Theologie prägend geworden ist: Menschen werden nichts durch Werke gerechtfertigt, sondern allein durch Gnade. Heiligkeit ist in diesem Sinn ein Mitwirken am Tun Gottes, nichts selbst Geschaffenes.

 

Wer nur auf eigene Anstrengung setzt, leugnet die Gnade

 

Solch eine „pelagianische“ Haltung kann der Papst aber auch in der Kirche erkennen. In Worten, die in Deutlichkeit und Heftigkeit an das Schreiben Evangelii Gaudium erinnern, schreibt er: „Dennoch gibt es Christen, die einen anderen Weg gehen wollen: jenen der  Rechtfertigung durch die eigenen Kräfte, jenen der Anbetung des menschlichen Willens und der eigenen Fähigkeit; das übersetzt sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre Liebe. Dies tritt in vielen scheinbar unterschiedlichen Haltungen zutage: dem Gesetzeswahn, der Faszination daran, gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorweisen zu können, dem Zurschaustellen der Sorge für die Liturgie, die Lehre und das Ansehen der Kirche, der mit der Organisation praktischer Angelegenheiten verbundenen Prahlerei, oder der Neigung zu Dynamiken von Selbsthilfe und ich-bezogener Selbstverwirklichung.“ Das Leben der Kirche werde so zum „Museumsstück“ oder zum „Eigentum einiger weniger“.

Und ganz im Sinn seiner immer wiederkehrenden Aufrufe zur Selbstprüfung schließt der Papst diesen Teil über die Versuchungen mit der Bitte, genau hinzusehen, wo diese -ismen im je eigenen Leben auftauchen könnten.

 

Aufruf zur Selbstprüfung

 

Aber was genau ist dann echte Heiligkeit? Dazu legt der Papst eine Meditation über den „Personalausweis des Christen“ vor, die Seligpreisungen Jesu. „Das Wort „glücklich“ oder „selig“ wird zum Synonym für „heilig“,“ so der Papst. Armut in einer Welt, in der Besitz Sicherheit bedeutet; Sanftmut in einer Welt voller Streit; Trauer in einer Welt, die nicht trauern will, sondern Unterhaltung, Genuss, Zerstreuung und Vergnügen sucht; Sehnsucht nach Gerechtigkeit wo Siegermentalität herrscht; barmherzig sein und einen „kleinen Widerschein der Vollkommenheit Gottes“ sichtbar machen, wo beurteilt und verurteilt wird; das Herz rein halten durch Liebe für Gott und den Nächsten; Frieden stiften in der Welt des Geredes und der Zerstörung; gegen den Strom schwimmen und Nachteile und sogar Verfolgung in Kauf nehmen.

„Wenn wir nicht in einer dunklen Mittelmäßigkeit versinken wollen, dürfen wir kein bequemes Leben anstreben, denn ‚wer sein Leben retten will, wird es verlieren‘ (Mt 16,25).“ Den „großen Maßstab“ für die Heiligkeit findet der Papst, diesen Teil des Textes abschließend, bei einer anderen, gleichermaßen oft von ihm zitierten Bibelstelle, der so genannten Gerichtsrede im Matthäusevangelium (‚ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben ...‘ Mt 25:31-46). „Wenn wir die Heiligkeit suchen, die in Gottes Augen gefällt, dann entdecken wir gerade in diesem Text einen Maßstab, nach dem wir geurteilt werden.“

„Wenn wir die Heiligkeit suchen, die in Gottes Augen gefällt, dann entdecken wir gerade in diesem Text einen Maßstab, nach dem wir geurteilt werden“

Heiligkeit könne weder verstanden noch gelebt werden, wenn man von dieser Forderung Jesu, barmherzig zu sein, absehe. Sie müsse ‚sine glossa‘ gelebt werden, ohne Kommentar, Ausflüchte oder Ausreden. Hier, im „pulsierenden Herz des Evangeliums“, der Barmherzigkeit, wird dann doch etwas von der Radikalität der Heiligkeit bei Papst Franziskus deutlich. Das Resultat, auch schon bekannt nicht zuletzt aus Evangelii Gaudium: „eine gesunde, bleibende Unruhe“.

 

Eine bleibende Unruhe

 

Aber auch an dieser Stelle bleibt der Papst sich und seinem Stil treu, er spricht von den Ideologien, die das entstellen können. Die Trennung etwa von der Beziehung zum Herrn, mache aus dem Christentum die berühmte NGO: ohne Geist. Genauso gefährlich sei das nur teilweise Beachten der Barmherzigkeit; als Beispiel nennt der Papst ausdrücklich den Lebensschutz, der auch das Leben der Armen, der Vergessenen, der Weggeworfenen und der Alten umfassen muss und sich nicht nur auf den Schutz des ungeborenen Lebens - so wichtig der auch ist - beschränken darf. Die Beschränkung ist hier die Gefahr.

Ähnlich konkret wird der Papst auch beim Thema Flüchtlinge und Migranten: „Oft hört man, dass angesichts des Relativismus und der Grenzen der heutigen Welt beispielsweise die Lage der Migranten eine weniger wichtige Angelegenheit wäre. Manche  Katholiken behaupten, es sei ein nebensächliches Thema gegenüber den „ernsthaften“ Themen der Bioethik. Dass ein um seinen Erfolg besorgter Politiker so etwas sagt, kann man verstehen, aber nicht ein Christ, zu dem nur die Haltung passt, sich in die Lage des Bruders und der Schwester zu  versetzen, die ihr Leben riskieren, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten.“ Klare Worte bei einem auch unter Christen nicht unumstrittenen Thema.

 

Christsein: Sich in die Lage des Bruders und der Schwester versetzen

 

Gerade hier, in der Benennung von Versuchungen und der Kritik an sich christlich gebenden Verhaltensweisen, die aber den Kern der Botschaft Jesu verkennen, wird der Papst dem Ansatz treu, dem er sich gleich zu Beginn verschrieben hat: Christsein für hier und heute, nicht abstrakt, sondern sehr konkret.

Gleiches gilt etwa auch für das Gebet: Die beste Weise, zu beurteilen, ob das eigene Gebetsleben authentisch ist, ist die Betrachtung des eigenen Lebens im Licht der Barmherzigkeit. Mit dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin gibt er den Werken der Barmherzigkeit Vorrang vor dem Gottesdienst und dem Gebet. Dieses praktizierte Christsein anhand des Evangeliums helfe aber letztlich auch dem Christen selbst, gegen die „Vergnügungssucht“, die „Verblödung“ durch oberflächliche Nachrichten oder den „Kaufzwang“. Das Evangelium verhelfe zu einem „anderen, gesünderen und glücklicheren“ Leben.

 

„Verblödung“ durch oberflächliche Nachrichten

 

Konkret wird Papst Franziskus auch bei den Merkmalen des Heiligen, bei den Sakramenten und dem Lebensstil, „zu dem der Herr uns ruft“. „Diese Merkmale, die ich hervorheben will, umfassen beileibe nicht alle, die einem Modell von Heiligkeit Gestalt geben können, doch es sind fünf große Bekundungen der Liebe zu Gott und zum Nächsten, die ich als von besonderer Wichtigkeit erachte aufgrund einiger Gefahren und Grenzen der heutigen Kultur. In ihr zeigen sich: die nervöse und heftige Unruhe, die uns zerstreut und schwächt; die negative Einstellung und die Traurigkeit; die bequeme, konsumorientierte und egoistische Trägheit; der Individualismus und viele Formen einer falschen Spiritualität ohne Gottesbegegnung, die den aktuellen Religionsmarkt beherrschen.“ Diesen Punkten widmet er sich in einem Kapitel ausführlich.

Harte Worte findet der Papst für katholische Netzwerke, die Räume verbaler Gewalt werden. Dort werde „im wütenden Abladen von Rachegelüsten die eigene Unzufriedenheit“ kompensiert, so der Papst. Und bei all dem Betonen von Geboten werde das achte zuweilen komplett übergangen: „Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen“.

„Erkennen wir unsere Schwachheit, aber lassen wir zu, dass Jesus sie in seine Hände nimmt und uns in die Mission hinaustreibt“

Ein weiteres Merkmal des Heiligen ist der Humor, die Freude und die hoffnungsvolle Gelassenheit, erweitert der Papst den Katalog, „Missmut ist kein Zeichen von Heiligkeit“. „Wagemut, Enthusiasmus, mit Freimut sprechen, apostolischer Eifer“ gehören ebenfalls dazu, es sind die Eigenschaften des Christen, der aus sich selbst heraus geht und verkündet. „Erkennen wir unsere Schwachheit, aber lassen wir zu, dass Jesus sie in seine Hände nimmt und uns in die Mission hinaustreibt.“

Noch einmal greift der Papst hier einen Gedanken vom Beginn seiner Überlegungen auf: „Die Heiligung ist ein gemeinschaftlicher Weg“. Gleich ob Ordensgemeinschaften, Pfarrei oder Ehe, „mit anderen zusammen zu leben oder zu arbeiten, ist zweifellos ein Weg der geistlichen Entwicklung“.

 

Offenheit für die Anwesenheit Gottes, die Transzendenz

 

Zu den Heiligkeits-Merkmalen gehört auch die Offenheit für die den Menschen übersteigende Anwesenheit Gottes, die Transzendenz, die sich im Gebet - vor allem der Anbetung - zeige. „Der Heilige ist ein Mensch mit einem betenden Geist, der es nötig hat, mit Gott zu kommunizieren.“

„Das Leben des Christen ist ein ständiger Kampf. Es bedarf Kraft und Mut, um den  Versuchungen des Teufels zu widerstehen und das Evangelium zu verkünden. Dieses Ringen ist  schön, weil es uns jedes Mal feiern lässt, dass der Herr in unserem Leben siegt“: So beginnt Papst Franziskus den abschließenden Teil seiner Exhortation, die vor allem dem Thema der Unterscheidung gewidmet ist. Inmitten von den Möglichkeiten, aber auch Ablenkungen des Lebens heute brauche es diese Gabe, um die Christen auch bitten müssten. „Wir sind frei, mit der Freiheit Jesu Christi; doch er ruft uns, das zu prüfen, was in uns ist – Wünsche, Ängste, Furcht, Sehnsüchte – und das, was außerhalb von uns geschieht – die „Zeichen der Zeit“ –, damit wir die Wege der Freiheit in Fülle erkennen: ‚Prüft alles und behaltet das Gute!‘ (1 Thess 5,21).“ Dabei gehe es aber nicht nur um eine Methode zur Lösung geistlicher Probleme, sondern auch um die Nachfolge Christi, „um seine Einladung zum Wachstum nicht vorbeigehen zu lassen“.

„Wir sind frei, mit der Freiheit Jesu Christi“

Es ist die „Logik des Hörens“, die den Schlussakkord des Schreibens bildet. Hören auf den Herrn, hören auf das Evangelium, hören auf die Kirche und das Lehramt. „Nur wer bereit ist zu hören, besitzt die Freiheit, seine eigene partielle und unzulängliche Betrachtungsweise, seine Gewohnheiten und seine Denkschemata aufzugeben“, und das ist Grundvoraussetzung für Heiligkeit, für Christsein im Hier und Heute. Dieses Hören ist immer aktuell. Es geht dem Papst keineswegs darum, „Rezepte anzuwenden oder die Vergangenheit zu wiederholen; denn die gleichen Lösungen gelten nicht unter allen Umständen, und was in einem Zusammenhang nützlich war, kann es in einem anderen nicht sein. Die Unterscheidung der Geister befreit uns von einer Starrheit, die keinen Bestand hat vor dem ewigen Heute des Auferstandenen.“

(vn)

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09. April 2018, 10:31