Ratzinger-Preisträger im Interview: Karl-Heinz Menke
Stefan von Kempis - Vatikanstadt
Unser Redaktionsleiter Pater Bernd Hagenkord hat sich mit dem neuen Ratzinger-Preisträger ausführlich unterhalten. In dem Interview, das unlängst in Bonn geführt wurde – an der Universität Bonn lehrte Menke bis zu seiner Emeritierung –, geht es vor allem um Karl-Heinz Menkes Blick auf die Theologie des emeritierten Papstes.
Frage: Was trägt die Theologie von Josef Ratzinger heute zur theologischen Debatte bei?
„Zwei Schwerpunkte haben Zukunftspotenzial: die Wahrheitsfrage und die besondere Hermeneutik der Heiligen Schrift, das, was er dem Jesusbuch hermeneutisch zu Grunde legt. Bei der Wahrheitsfrage geht er davon aus, dass es eine Wahrheit gibt und dass sie theologisch beschrieben werden kann als Logos Gottes, der in Jesus Christus konkret geworden ist. Die Theologie hat die Aufgabe, die Offenbarung sowie Schrift und Tradition so in den wissenschaftlichen Diskurs einzuspeisen, dass die Sinnfrage nicht erlischt, und z. B. an der Universität diese Sinnfrage so zu artikulieren, dass deutlich wird, dass sich daraus enorme Konsequenzen für das Menschenbild, für den Umgang mit Gentechnologie oder Sterbehilfe, für die Zukunftsfragen der Menschen ergeben. Er hält das für das Gegenteil von totalitär. Denn eine Wahrheit, die identisch ist mit der gekreuzigten Liebe Christi, wird niemals etwas mit Gewalt erzwingen. Die Universalität der Wahrheit ist das Gegenteil von Totalitarismus oder Imperialismus. Darüber nachzudenken lohnt sich allemal. Das Zukunftspotential, das darin liegt, ist noch längst nicht ausgeschöpft.“
Frage: Sie kommen aus dem universitären Bereich. Gibt es bei den nachfolgenden Theologengenerationen neue Perspektiven zu entdecken?
„Angesichts der Tendenzen von Globalisierung und interreligiösem Dialog, die wichtig sind, kommt die Wahrheitsfrage zu kurz. Eine Rückbesinnung auf das, was er gegen den Mainstream immer wieder eingefordert hat, macht die Theologie zukunftsfähig im Konzert der anderen Wissenschaften. Wenn Theologie sich zum Beispiel auf die historische Perspektive reduziert, dann ist die Theologie ganz schnell ersetzbar durch andere Lehrstühle philologischer, exegetischer oder historischer Art. Entsprechende Lehrstühle an der Philosophischen Fakultät würden auch keineswegs zum Niveauverlust führen.“
Frage: Als Sie 2014 in die Internationale Theologische Kommission im Vatikan aufgenommen wurden, sagten Sie: Es gibt eine Diskrepanz zwischen Lehre und Leben der Menschen. Was kann eine Theologie Ratzingers zu einer größeren Konvergenz beitragen?
„Man muss zwei Dinge auseinanderhalten: Es gibt die politische Relevanz, z. B. kann Theologie auch für Wirtschaft, Erziehung und Pädagogik relevant sein. Aber das ist nicht gemeint mit der sich öffnenden Schere zwischen Leben und Theologie. Theologie muss etwas sein, das das Leben derer, die sie treiben, prägt. Ich sage das auch Theologiestudenten: Ihr müsst euch mal dabei ertappen, dass ihr an einer Ampel oder an einer Supermarktkasse darüber nachdenkt, was hat der denn gerade in der Vorlesung gesagt. Also etwas in sich hin und her wenden, bis ich selbst zu einer Überzeugung oder Klärung gelangt bin – „ruminatio“ nennen das die Väter. Das wäre die Identität von Theologie-treiben und eigener Existenz. Nur solch eine Theologie wird dann auch fruchtbar in der Verkündigung und in dem, was Theologie in allen Bereichen des Lebens bewirken will: dass Menschen sich an Christus orientieren.
Diejenigen, die Theologie treiben, dürfen das nicht im Sinne eines Jobs oder einer Methode tun, sondern als etwas, das sie selber betrifft. Hier scheint es eine Entwicklung zu geben – ich blicke auf 30 Jahre Lehrtätigkeit zurück. Leute lesen Bücher, aber es hat nichts mit ihrem Leben und ihrer Verkündigung zu tun. Ich sehe immer wieder Theologiestudenten, die ihr Diplom oder Magister gemacht haben und die dann, wenn sie vor der Gemeinde stehen, an ihre Erfahrung im Urlaub etc. anknüpfen, nicht aber an das, was sie in der Vorlesung gelernt und in Büchern gelesen haben.“
Frage: Gibt es einen genuinen Ratzingerschen Beitrag dazu?
„So wie ich ihn erleben durfte, hat er immer wieder vorgelebt, dass christliche Theologie nichts anderes ist als die Liebe zur Wirklichkeit. Christliche Spiritualität ist das Sich-Beziehen auf Den, der der Grund aller Wirklichkeit ist. Wenn ich wirklich jeden Tag bete und die Beziehung zur Wahrheit – also nach christlicher Tradition Christus – einübe, dann bin ich niemals in Gefahr, die Wirklichkeit mit meinen Subjektivismen zu verwechseln. Das hat Papst Benedikt ein Leben lang, Jahrzehnte lang vorgelebt. Seine Theologie ist mit einer tiefen Spiritualität gepaart. Man hat gemerkt: Der lebt, was er sagt.“
Frage: Als Papst hat er der Kirche ein sehr theologisches Wort, Bultmanns „Entweltlichung“ vorgeworfen. Was kann die absterbende Volkskirche von der Theologie Ratzingers lernen?
„Ich durfte ihn zweimal dort, wo er jetzt im Vatikan lebt, im Vieraugengespräch treffen: Einmal, als er mich zu den Castelgandolfo-Vorträgen 2014 eingeladen hat, und im März dieses Jahres, als ich an einem Sonntagmittag zu ihm eingeladen war. Da kamen wir auch auf das Wort „Entweltlichung“ zu sprechen. Er hat gesagt, das ist weitgehend missverstanden worden – so als hätte er dafür plädiert, die Kirche solle sich aus der Welt, aus Sozialinstitutionen zurückziehen. Das war aber nicht die primäre Intention, sondern er wollte darauf hinweisen: Wenn der gelebte Glaube des je Einzelnen nicht mehr die Welt und das eigene Leben prägt, sind die Institutionen des Christentums nicht mehr vom Glauben der Gläubigen geprägt, sondern sie verselbstständigen sich.
Theologisch kann man das als das Verhältnis von Glaube und Sakramentalität oder fides qua und fides quae bezeichnen. Der Glaubensvollzug muss sich verleiblichen in einem Christentum, das von der Inkarnation her zu denken ist. Die christliche Religion ist nicht irgendeine Konstruktion, mit der das Christentum den transzendenten Gott zu begreifen versucht. Die Geschichte Jesu ist die Offenbarheit Gottes, und das fleischgewordene Wort muss von jedem Gläubigen in das kleine Einmaleins seines Lebens übersetzt werden. Die Kirche hat in der Vergangenheit durch Gläubige, die ihren Glauben gelebt haben, vieles geprägt z. B. soziale Institutionen, aber wenn die gegenwärtigen Träger dieser Einrichtungen nicht mehr glauben, muss die Kirche sich davon trennen und sich auf das zurückziehen, was sie durch ihren gelebten Glauben noch prägen kann. Das Plädoyer zur Entweltlichung ist kein Plädoyer für einen Rückzug ins Private, sondern im Gegenteil für einen Glauben, der als Glaube die Welt prägt.“
Frage: Wenn ich als Student zu Ihnen komme und habe noch nichts von Ratzinger gelesen, was würden Sie mir als erstes in die Hand drücken?
„Ich selbst habe 1968 kurz vor meinem Abitur von meinem Religionslehrer die „Einführung in das Christentum“ in die Hand gedrückt bekommen und das mit Begeisterung gelesen. Das wäre, wenn man nichts von ihm gelesen hat, eine faszinierende Lektüre. Aber dann auch das Jesusbuch, wenn man etwas länger Zeit hat. Oder sein Buch „Glaube, Wahrheit, Toleranz“, das zeigt, dass Benedikt alles, was Kultur, Wirtschaft, Politik und Theologie prägt, zur Kenntnis nimmt.“
Frage: Was verbindet Sie persönlich mit der Theologie von Joseph Ratzinger?
„Ich bin leider keiner seiner Schüler, aber ich habe vom Anfang meines Theologiestudiums an Ratzinger gelesen. Ich bin keiner der ganz großen Ratzinger-Interpreten, auch wenn ich einiges über ihn geschrieben habe. Es hat mich überrascht, den „Joseph Ratzinger“-Preis zu bekommen. Es gibt jedoch zwei Punkte, in denen wir sehr konvergieren: Er fokussiert alle seine theologischen Anstrengungen auf das Thema Wahrheit bzw. Einzigkeit und Heilsuniversalität Christi. Zur Jahrtausendwende ist das entsprechende Dokument „Dominus Iesus“ erschienen. Das ist auch eines meiner Themen. Zum ersten Mal haben wir miteinander korrespondiert, als ich das Bändchen „Die Einzigkeit Christi“ geschrieben hatte. Seine Kommentare waren mitunter durchaus kritisch, aber da sind wir in Kontakt getreten.
Ein zweites ist das Buch, das ich der Sakramentalität der Kirche gewidmet habe. Die Verbindung von Christologie und Ekklesiologie ist eines der zentralen Themen des Gesamtwerkes von Papst Benedikt. Das Thema Stellvertretung, das in der Mitte zwischen Christologie und Ekklesiologie steht, hat ihn schon als jungen Theologen in Bonn interessiert. Er hat ein kleines Buch darüber geschrieben, seine Vorträge bei den Salzburger Hochschulwochen. Er hat sämtliche Artikel, die in diesem Themenfeld angesiedelt sind, in der zweiten Auflage des Lexikons „Theologie und Kirche“ geschrieben. Ich habe dann in der dritten Auflage die entsprechenden Artikel übernommen. Hier sind also große Schnittflächen, und das sind auch die Punkte, die mich am meisten an seiner Theologie interessieren.“
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