Deutschland: Lütz für eine staatliche Missbrauchs-Untersuchung
Das sagte Lütz, der auch Mitglied im Päpstlichen Dikasterium für Familie und Laien ist, am Dienstag in einem Gespräch mit Vatican News in Rom. Die Missbrauchs-Studie wurde im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellt; bei der Herbst-Vollversammlung der Bischöfe in Fulda wurde sie beraten und der Öffentlichkeit vorgestellt.
„Zwei der sieben Teile sind sehr gut, aber die fünf anderen Teile sind völlig schiefgegangen“, so Lütz. „Ich bin inzwischen der Meinung, es wäre tatsächlich besser, es würde eine staatliche Untersuchung stattfinden, ähnlich wie in Australien: Objektiv, auf gutem, wissenschaftlichen Niveau, auch transparenter.“
Wenn man in der Studie zum Beispiel erfahre, dass es in irgendeinem Bistum nur ein paar Fälle gebe und in einem anderen über 800, die entschädigt worden seien, „dann interessiert man sich natürlich: In welchem Bistum war das jetzt?“
Darauf gebe die Studie keine Antwort. Auch diese Merkwürdigkeiten führten aus der Sicht des Psychiaters zu einem „Glaubwürdigkeitsverlust für die Kirche“.
Mit führenden Forschern klären
Man müsste mit führenden Forschern klären, was jetzt wirklich seriös ist an der Studie – und was nicht. Und dann echte Konsequenzen ziehen. Warum könne nicht der Bischof selber oder sein Generalvikar mal mit all den Menschen persönlich reden, die nachgewiesenermaßen Opfer seien? Natürlich koste das Zeit und sei auch mühsam. „Aber das kann heilend wirken für die Opfer“. Einige Bischöfe machten das schon, aber das könne man intensivieren. Was die Prävention betreffe, passiere zwar quantitativ viel, aber es fehlten deutschlandweite qualitative Standards. Außerdem klagten Opfer darüber, dass jetzt wieder dauernd über Zölibat, Frauenpriestertum und diese üblichen Kirchenthemen geredet werde. „Davon haben die Opfer nichts!“
Man müsste aber auch versuchen, den Umgang mit Beschuldigten anders zu handhaben. Es gebe inzwischen „eine zweite Opfergruppe, und das sind unschuldig Beschuldigte“. „Das ist auch ganz schrecklich für diese Menschen. Man müsste die Aussagepsychologie bei unklaren Beschuldigungen einbeziehen.“
Von außen betrachtet gilt die deutsche Ortskirche als relativ fortschrittlich im Umgang mit Missbrauchsfällen. In den Jahren seit 2010 ist in dieser Hinsicht vieles passiert – mehr als in anderen gesellschaftlichen Bereichen in Deutschland, und mehr als in vielen Teilen der Weltkirche. Das weiß auch Manfred Lütz.
„Die Wende in diesem Bereich ist eigentlich schon mit den ersten Leitlinien der Bischofskonferenz passiert, im Jahr 2002. Dann ist das 2010 mindestens noch einmal intensiviert worden. Vor allem in der Prävention ist sehr viel getan worden.“
„Ich glaube, man müsste jetzt wirklich mehr Wissenschaft einbeziehen, um den Umgang mit diesen Fällen zu professionalisieren. Professor (Hans-Ludwig) Kröber, einer der führenden deutschen Experten, hat in der Herder-Korrespondenz (12/2018) einen sehr guten Artikel darüber geschrieben“. Darin werfe er der Studie vor, mehr kirchenpolitische Ziele im Auge zu haben als wissenschaftliche.
Medien tun das, was sie tun müssen
In dem Interview mit Vatican News äußerte sich Manfred Lütz auch zum öffentlichen Druck in Sachen Missbrauch, speziell zum Verhalten der Medien. Aus seiner Sicht tun sie „das, was sie tun müssen“. „Sie müssen berichten über die Dinge, die passieren, und sie tun das manchmal ein bisschen dramatisierend, aber so erregt man Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema.“
Eine Einschränkung macht Lütz aber doch, und zwar mit Blick auf die von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebene Missbrauchs-Studie. „Ich hätte mir gewünscht, dass etwas differenzierter über die Studie berichtet worden wäre und man zum Beispiel immer richtig unterschieden hätte zwischen Beschuldigten und Tätern.“
Lütz würdigt die Bistümer, die nach dem Bekanntwerden der Studie transparent mit ihren Zahlen umgegangen seien und weitere konkrete Schritte unternommen hätten, Akten an die Staatsanwaltschaften übergeben hätten etc. „Aber ich glaube, man muss in der moralischen Aufarbeitung präziser sein. Natürlich ist klar, dass ab dem Jahr 2002, ab dem Jahr, wo es die Leitlinien der Bischofskonferenz gegeben hat, jeder Bischof, der noch einen Täter versetzt hat, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, grob fahrlässig handelte. Und ich finde, so jemand müsste eigentlich zurücktreten!“ Da frage man sich – das haben ja auch manche Journalisten gefragt – warum eigentlich so etwas nicht geschehe.
Sexualwissenschaft vor 1990 hat Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern völlig bagatellisiert
Andererseits dürfe man nicht vergessen, „dass vor 1990 die öffentliche Debatte ja ganz anders war“, so Lütz. „, die Sexualwissenschaft hat Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern völlig bagatellisiert. Das wurde als emanzipatorisch dargestellt. Das war nicht nur in der Odenwaldschule so, sondern auch bei den Grünen. Ich habe in letzter Zeit nochmal die Erzählung von Thomas Mann „Der Tod in Venedig“ gelesen – der Junge, in den sich der Schriftsteller da verliebt hat, ist 14 Jahre alt!“ Das sei damals als Kunst goutiert worden. Erst Anfang der 90er Jahre käme feministischen Beratungsstellen das große Verdienst zu, dass sie klargemacht hätten: Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern bedeutet immer Gewalt des Erwachsenen, der die Situation kontrolliert, gegenüber dem Kind, das für erwachsene Bedürfnisse ausgenutzt werde. Seit dieser Zeit „sind wir sensibilisiert für diese Dinge“.
Man müsse also gerechterweise anders urteilen über Bischöfe, die es vor 1990 nicht besser gewusst hätten nach dem Motto: „Das ist halt eine Sünde, wie es viele Sünden gibt. Dann soll der (Täter) beichten. Reue und Vorsatz zeigen… und dann gebe ich ihm eine Chance und setze ihn irgendwo anders ein.“ Dennoch sei auch da natürlich vorwerfbar, dass man sich nicht um die Opfer gekümmert habe. Wie schlimm ein solches Erlebnis für Kinder und Jugendliche sei, hätten die Bischöfe sich auch damals schon denken können.
(vatican news – gs)
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