D: „Zuwanderung braucht nachhaltige Lösung“, sagt Kardinal Woelki
DOMRADIO.DE: Was geht in Ihnen vor, wenn Sie heute Bilder von blockierten Schiffen sehen und Seenothelfern, die auch noch dafür kriminalisiert werden, dass sie Menschen aus höchster Lebensgefahr retten?
Woelki: Es ist und bleibt eine Schande für Europa, dass dies so ist. In der gegenwärtigen politischen Lage treten allzu oft symbolische Taten an die Stelle von substanziellen Debatten. Das verschlimmert das angespannte Klima in dieser Frage nur noch. Links wie rechts bestimmen oftmals die Scharfmacher den Diskurs. Es ist nur ein ganz schmaler Grat zwischen dem Gebot der Menschlichkeit und dem Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten, die mit den Problemen nicht länger alleingelassen werden wollen. Deshalb: Wenn Menschen sich schon auf marode Boote begeben, um auf See hinauszufahren, dann ist das alles schon viel zu spät. Das Problem muss sehr viel früher und sehr viel entschiedener angegangen werden.
DOMRADIO.DE: Die EU ist tief zerstritten über den Umgang mit dem Problem. Keiner will die Menschen haben, die da übers Mittelmeer kommen. Wer versagt da?
Woelki: Auf jeden Fall die Europäische Union, die ja immerhin Friedensnobelpreisträger ist. Wir sind als Europäer ein direkter Nachbar von unseren afrikanischen Freunden und Freundinnen. Europa ist der direkte Nachbar von Afrika, und Europa ist ein wohlhabender, reicher Kontinent. Jeder der europäischen Staaten trägt deshalb hier eine ganz besondere Verantwortung, gerade auch dann, wenn wir immer wieder hervorheben, dass wir doch der großen abendländisch-christlichen Tradition entspringen und aus ihr hervorgegangen sind. Nochmals: Wenn Menschen sich aus Verzweiflung auf die maroden Boote des Mittelmeeres begeben, dann ist es schon viel zu spät. Ganz egal, ob sie vor Krieg und vor Terror fliehen oder weil die sozialen Lebensumstände, das Gefälle von Armut und Reichtum, die reine Not und Existenzangst sie dazu treiben.
Es braucht deshalb konkrete legale Einwanderungsmöglichkeiten, Resettlement-Programme hier in Europa und nach Europa. Es braucht konkrete Hilfe zur Selbsthilfe in den Regionen Afrikas, nicht einfach nur eine Scheckbuch-Politik mit der Gießkanne. Es muss gelingen, dort Menschen ein dauerhaftes Auskommen zu sichern, damit auch dort Menschen in Frieden und in sozialer Gerechtigkeit und im Wohlstand leben können.
DOMRADIO.DE: Welchen Beitrag kann die Kirche leisten zu einer Lösung, die das Leben der Menschen in den Mittelpunkt rückt und ihre Würde wahrt?
Woelki: Die Kirche ist in den Ländern Afrikas sehr präsent, sie unterstützt dort Menschen vor allen Dingen in Fragen der Bildung. Das ist überall auf der Welt der Schlüssel zum Erfolg. Dort, wo Bildung ist, kann sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickeln. Dort, wo sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt, können auch Gerechtigkeit und Frieden, Wohlstand und Verständigung und soziale Gerechtigkeit wachsen. Deshalb ist Bildung ist das Entscheidende.
Die Kirche hilft sicherlich auch durch das Gesundheitswesen. Sie hilft sicher durch viele Beratungsmöglichkeiten und durch Spenden. Und sie hilft auch sehr der oftmals unterdrückten weiblichen Bevölkerung Afrikas. Außerdem werden wir als Kirche auch weiter immer wieder politisch darauf aufmerksam machen, dass es für Zuwanderung endlich einer nachhaltigen Lösung bedarf. Dafür müssen wir alle einstehen. Alle in Europa und alle Länder Europas müssen jetzt endlich beweisen, dass die EU einmal zu Recht den Titel eines Friedensnobelpreisträgers erhalten hat.
Das Interview führte Hilde Regeniter.
(domradio/vatican news – gs)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.