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„Sexueller Missbrauch ist vor allem Machtmissbrauch“

Vor der Verwechslung von Ursachen für sexuellen Missbrauch und Risikofaktoren in der Institution Kirche, die Missbrauch begünstigen können, aber nicht die eigentliche Ursache sind, hat der deutsche Jesuit Klaus Mertes gewarnt.

In einem Vortrag am Montagabend an der Universität Wien betonte Mertes, dass die viel zitierten Themen wie Klerikalismus, kirchliche Sexualmoral, Abwertung von Homosexualität oder der Zölibat zwar spezifische Risikofaktoren für Missbrauch darstellten. Sie seien aber keine direkte Ursachen dafür. Freilich dürfe das auch nicht als Ausrede genommen werden, um innerkirchliche Reformen hintanzustellen.

Der Jesuit erinnerte an die ersten Reaktionen in der US-Kirche in den 1990er-Jahren nach dem Aufkommen der ersten Missbrauchsfälle. Zwei Argumente wurden von den Kirchenleitungen damals in den Vordergrund gestellt: Wenn sich alle an die kirchliche Sexualmoral halten würden, gäbe es keinen Missbrauch. Und: Wenn es keinen homosexuellen Klerus geben würde, gäbe es ebenfalls keinen Missbrauch. Beide Aussagen seien aber „Teil des Problems und nicht der Lösung“, so der Jesuit.

Zölibat ist keine Ursache für Missbrauch - aber ein Risikofaktor

Bei sexuellem Missbrauch gehe es um sexualisierten Machtmissbrauch, zeigte sich Mertes überzeugt. Doch über Macht werde nicht entsprechend reflektiert. Die innerkirchliche Fixiertheit auf die Sexualität sei vielmehr eine Art Ablenkung. Noch dazu, weil auf die persönliche psychosexuelle Reifung des Klerus viel zu wenig Bedacht gelegt werde bzw. die institutionellen Gegebenheiten diese Reifung nicht ermöglichten. Viele unreife Täter würden auch gar nicht verstehen, was sie ihren Opfern angetan haben.

Zum Nachhören

Die eigene Sexualität und erst recht Homosexualität sei im Klerus kein Thema, kritisierte Mertes eine mangelnde Reflexionskultur. Zugleich ziehe dies auch unreife Persönlichkeiten an. Insofern sei der Zölibat auch keine direkte Ursache für Missbrauch, aber ein Risikofaktor. Der Jesuit sprach u.a. von klerikalen Männerbünden. Das Priesteramt habe einen elitären Aspekt, verbunden mit einem besonderen Zugang zu Macht. „Wenn Mitglieder aus den eigenen Reihen beschuldigt werden, schließen sich die Reihen fest um das beschuldigte Mitglied“, so Mertes. Die Fürsorge gelte vor allem dem Täter.

Betroffene leiden nicht nur an der Tat, sondern auch am Verhalten der Kirche

Freilich sei der plumpe Versuch, Machtstrukturen in Richtung allgemeiner Gleichheit einfach abzubauen, auch keine Lösung, denn es gebe real existierende sinnvolle Machtverhältnisse, seien es jene von Eltern zu Kindern, Ärzten zu Patienten, Lehrern zu Schülern und eben auch in der Kirche. Allerdings brauche es eine erhöhte Achtsamkeit für Machtverhältnisse, die dann auch in Reformen wie eine innerkirchliche unabhängige Gerichtsbarkeit münden können.

Die Betroffenen würden nicht nur an der Tat bzw. den Tätern leiden, sondern oft noch viel mehr am Verhalten der Institution Kirche, wenn es um Vertuschung oder das Leugnen von Verantwortung geht und das Leid der Opfer nicht gesehen werde.

„Verantwortung übernehmen“

Das Verhalten von Tätern und Verantwortlichen in der Kirche spiele systemisch zusammen, so Mertes, „auch wenn keine Absprache vorliegt, und zwar durch die gemeinsamen institutionalisierten Werte und Sichtweisen“. Den Verantwortlichen falle es schwer, nachträglich ihre eigene Verantwortung anzuerkennen, vielfach würden sie sich selbst als Opfer empfinden. So werde das Leid der tatsächlichen Opfer zur Nebensache. „Natürlich schaden die Täter auch der Institution Kirche, aber das ist natürlich nicht der schlimmste Schaden. Der schlimmste Schaden ist der, den die Betroffenen erleiden“, so Mertes.

Wenn sich kirchliche Verantwortliche auf der anderen Seite einer besonders radikalen bzw. harten Sprache gegenüber Tätern bedienten, habe dies eigentlich auch nichts mit Mitgefühl gegenüber den Betroffenen Opfern zu tun, sondern die Kirche stelle sich damit selbst auf die Opferseite und nehme sich aus der Verantwortung. Von vielen Betroffenen habe er gehört, dass sie zwar mit den Tätern abgeschlossen hätten, nicht aber mit der Institution Kirche.

„Grenzen des Könnens und Wollens“

Mertes machte in seinem Vortrag auch darauf aufmerksam, dass oft gar nicht bewusst sei, wie viele von Missbrauch Betroffene in den Pfarrgemeinden leben. In der Seelsorge bzw. in der kirchlichen Sprache müsse noch viel mehr darauf Bedacht genommen werden. Wenn etwa von christlicher Versöhnung oder Feindesliebe die Rede ist, erwecke dies bei vielen Betroffenen nur Schuldgefühle, da sie dazu nur sehr schwer in der Lage seien.

Deshalb gelte es etwa, das Thema Versöhnung so anzusprechen, dass es die Not der Opfer nicht noch verstärke. „Grenzen des Könnens und Wollens dürfen sein“, so der Jesuit: „Die Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die sich aus der Unterscheidung zwischen Opfer und Täter ergibt, darf unaufgelöst bleiben.“

Betroffene wollten auch nicht auf den Opferstatus reduziert werden und schon gar nicht, dass ihrer Leidenserfahrung die Leidenserfahrung Jesu übergestülpt wird und sie so vereinnahmt würden.

Die missbrauchte und die heilsame Nähe

Ein weiteres Problem: Betroffene machten die Erfahrung, dass sie in einer durch Missbrauch verunsicherten Kirche auf Abstand gehalten würden. „Weil sie Opfer missbrauchter Nähe wurden, wird ihnen nun heilsame Nähe vorenthalten“, bemängelte Mertes. Eine Generalverdächtigung von Nähe sei aber die falsche Antwort auf den Missbrauch von Nähe. Es gebe eine legitime Sehnsucht nach Nähe und ein Leben nach dem Missbrauch. Für das rechte Maß an Nähe und Distanz brauche es noch wesentlich mehr Achtsamkeit, so Mertes.

Klaus Mertes machte 2010 als damaliger Leiter der Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg Fälle von Missbrauch öffentlich. Damit stieß er eine breite Debatte an, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Inzwischen ist Mertes Direktor der Jesuitenschule Sankt Blasien im Schwarzwald. Er hält bundesweit Vorträge und publiziert zu Fragen von Missbrauchsaufarbeitung und Prävention.

(kap – sk)
 

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24. Oktober 2019, 09:22