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Unser Sonntag: Die Gnade des Augenblicks

Sascha Jung kommentiert, dass Jesus mit nur einem Blick, mit einem ‚guten Blick‘, alles verändert. Jesus befreit Zachäus aus der Enge seines Lebens und bietet ihm eine echte Begegnung auf Augenhöhe an. Er ruft ihn zurück ins Leben und kehrt nicht nur in sein Haus ein, vielmehr in ihm selbst kehrt er ein!

Sascha Jung

Lk 19,1-10

Es gibt nicht vieles, das den Italiener aus der Ruhe bringen kann oder ihn dazu verleiten könnte, die Fassung zu verlieren. Selbst wenn temperamentvoll die Gesten sprechen oder lauthals im römischen Straßenverkehr den Touristen ein paar Schimpfworte entgegenschallen, eigentlich meint er es ja gar nicht so. Aber wenn ihn der sogenannte ‚Malocchio‘ trifft, dann macht sich ganz schnell Unbehagen breit.

Wenn Blicke töten könnten...

‚Malocchio‘ – das ist die italienische Bezeichnung für den Glauben an den „bösen Blick“, für die Idee, dass man anderen durch bloßes Angucken großes Unheil bringen kann; ein Glaube, der im Christentum, im Islam, Judentum und Hinduismus auftaucht, ebenso in zahlreichen Mythen und Erzählungen. Selbst wir haben das im Sprachgebrauch: „Wenn Blicken töten könnten …“.

Unser Sonntag - hier zum Nachhören

Die Faszination des Blickes 

In der Kulturgeschichte des Menschen war man bis ins 17. Jahrhundert hinein der Meinung, dass vom Auge eine Kraft ausgeht, mit der die Wirklichkeit abgetastet und als ‚Meldung‘ wieder zurück an das Auge geht, damit wir sehen, was wir sehen. Ausgangspunkt dieser „Sehstrahlen“, wie man sie nannte, war das Auge. Damit konnte man diese ganzen Phänomene wie ‚böser Blick‘ oder infizierender Liebesblick erklären. Erst nach der Entdeckung des Netzhautbildes durch Johannes Kepler (1571-1600) wurde die ‚Sehstrahltheorie‘ langsam verdrängt – die Faszination des Blickes jedoch blieb.
Denn: erst durch den Blick des anderen auf uns werden wir zum Subjekt – zu einem Wesen, das ist und das zu denken und zu erkennen vermag. Wir sind also nicht nur ein Objekt in der Welt der anderen, sondern durch den Blick der anderen geschieht etwas mit uns: wir gewinnen ‚Ansehen‘.
Im Angeblickt-Werden wird unser Dasein von anderen wahrgenommen und bestätigt. Zugleich ruft es uns zu einer Verantwortung, die in der christlichen Philosophie der Neuzeit an Bedeutung gewonnen hat. Hier wird dann von der Erfahrung des Antlitzes, der Erfahrung des Gesichts, gesprochen – der (franz.) ‚Visage‘.

„Der Blick schenkt mir die Würde des Angeschaut-Werdens“

‚Visage‘ ist hier aber nicht etwas, das ich betrachte, sondern vielmehr ein Blick, der mich trifft. Und dies ist dann kein Blick, der beurteilt, abschätzt oder mich zum einfachen ‚Objekt‘ in der Welt des anderen macht. Vielmehr reißt der Blick mich als Hilfeschrei aus meinem Selbstgenügen. Dieser Blick zieht mich ins Leben und schenkt mir die Würde des Angeschaut-Werdens, er schenkt mir wahrhaft ‚Ansehen‘.
Diese Gnade eines Augenblicks ist es, die Jesus dem Zollpächter Zachäus schenkt – das Evangelium berichtet uns von diesem Anblick, einem Anblick der Liebe und des Wandels. Für Zachäus, der darum weiß, dass er unrechtmäßig viele Steuern eingezogen und sich auf Kosten anderer bereichert hat, wird der Blick Jesu zum Wendepunkt seines Lebens. Es ist der ‚gute Blick‘, der Zachäus trifft: ein barmherziger Blick, ein Blick, der ihn alle Lebensangst vergessen lässt, der ihn ermutigt, auf Jesus zuzugehen.

Zachäus und seine Lebenslüge

Zachäus war in den Augen seiner Zeitgenossen ein ‚Verlorener‘: verloren in seiner selbst geschaffenen Größe, die ihm doch keine Identität und schon recht kein Ansehen schenkte; sein Leben war verstrickt in die Lebenslüge, mehr zu sein durch Besitz und Autorität. Auf diese Lebenslüge spielt sein Name an. Zachäus – das leitet sich ab von dem Wort ‚Zakkai‘, was so viel bedeutet wie „Rechtschaffend“, „Unschuldig“ und „Rein“. Aber so ganz unschuldig ist er eben doch nicht an dem Umstand, dass er von allen gehasst und trotz seiner amtlichen Größe von der Menge klein gehalten wird. Er hat sich nicht nur die Hände schmutzig gemacht, sondern die Reinheit seiner Seele verloren. Wenn der Zöllner schon an sich eine Hassfigur ist – wer bezahlt denn schon gerne Steuern? – so trifft es Zachäus doppelt und dreifach: denn als Jude, als „Sohn Abrahams“ (vgl. Lk 19,9) ist er auch ein religiöser Verräter: er arbeitet den verhassten Römern in die Hände, übt dabei nationalen Verrat an Israel, und gibt sich mit Geld ab, das ihn wiederum unrein macht.

„Er macht sich auf, um zu erkennen, wer dieser Jesus ist“

Zachäus spürt diese Selbstverstrickung, in die er sich gebracht hat. Und da hört er von diesem Jesus, der in seine Stadt kommt. Also macht er sich auf, nicht nur um Jesus zu sehen, sondern – und das ist wichtig für die Dramaturgie dieser Erzählung – um zu ‚erkennen‘, wer dieser Jesus ist. „Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei“ (vgl. Lk 19,3) – in diesem Vers offenbart sich auch etwas von dem seelischen Zustand des obersten Zollpächters. Diese Suchbewegung, die Zachäus aufbrechen lässt, steht bei Lukas im Zusammenhang mit dem Wort Jesu: „Sucht, und ihr werdet finden“ (vgl. Lk 11,9). Jetzt findet Zachäus nicht nur zu Jesus, sondern er wird von ihm gefunden.
An der Stelle angekommen, an der der Maulbeerfeigenbaum steht, blickt Jesus nach oben und dem Zachäus, der dort zwischen den Ästen versteckt auf der Lauer liegt, direkt in die Augen. Er ruft Zachäus bei seinem Namen, ohne dass uns berichtet wird, woher Jesus seinen Namen kennt.

Jesus befreit aus der Enge des Lebens

Ein Blick nur, ein ‚guter Blick‘, der alles verändert. Jesus befreit Zachäus aus der Enge seines Lebens. Der Herr bietet ihm eine echte Begegnung auf Augenhöhe an, er ruft ihn zurück ins Leben und kehrt sogar bei ihm ein: nicht nur in sein Haus, sondern vielmehr in ihm selbst kehrt er ein! Das Gebäude an Lebenslügen zerbricht, da das Wort der Wahrheit und Lauterkeit nun in ihm wohnt – und die Strahlkraft des Lebens leuchtet in ihm auf und lässt ihn selbst nun ganz anders auf die Welt schauen. Zachäus ‚erkennt‘ Jesus als den Herrn – er spricht ihn an mit „Kyrie“ (vgl. Lk 19,8) und wird von ihm gestärkt mit der Kraft seines Erbarmens – ganz ohne Worte, nur im Anblicken. Die Kleinlichkeit, mit der er zuvor die Menschen ausgebeutet hat, wird in der Erfahrung mit Jesus zur Großzügigkeit gewandelt. Er erkennt jetzt seine Verantwortung für seine Mitmenschen und wird jedes begangene Unrecht wieder gut machen.
„Wenn Blicke Leben retten könnten“, dann wäre der Anblick Jesu ganz bestimmt ein solcher, durch welchen Zachäus neues Leben gegeben wurde. In einem der eucharistischen Hochgebete heißt es: „Öffne unsere Augen für jede Not und lass uns erkennen, wo Menschen uns brauchen“.
Ich wünsche uns einen solchen Blick – auf uns untereinander, auf unsere Welt – einen Anblick, der uns gut tut und der uns sagt: es ist gut, dass du ‚du‘ bist; es ist schön, dass es dich gibt!

(vatican news - claudia kaminski)

 

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02. November 2019, 10:27