Corona-Krise: „Lernen, Zeit werthaft zu nutzen“
RV: Wie verändert sich das Leben durch die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus?
Markus Krienke: „In Italien haben wir mittlerweile die dritte Woche der Vollschließung hinter uns und der sinnvolle Umgang mit dieser Herausforderung wird immer dringlicher. Das Coronavirus hat uns aus unserem frenetischen Alltag gerissen, der von ökonomischen Imperativen, von Wettbewerb und Konsum geprägt war. Man ist gezwungen, sich auf das Essenzielle zu konzentrieren, den Verlust alltäglicher Gewohnheiten zu akzeptieren, die Nahbeziehung mit der Familie, mit der man nun auf engstem Raum zusammenlebt, neu zu gestalten, eine neue Balance zwischen Smartworking und freien Stunden zuhause zu finden, und vor allem sich die Frage zu stellen, wie man „Zeit“ werthaft nutzen kann.
„Resilienz“ ist da ein wichtiges Thema: Das meint Elastizität und Anpassungsfähigkeit an die jetzige Situation, auch im Hinblick auf die Tatsache, dass das Leben danach vielleicht anders aussehen wird als wir es zuvor gewohnt waren. Sich die Frage zu stellen, was wichtig und zentral für mein Leben ist, ist nun von großer Bedeutung. „Kreativität“ statt einfach nur „Produktivität“, die Besinnung darauf, worauf wir an Positivem jetzt schon bauen können, damit der Neustart dann auch gelingen kann. Und Solidarität für diejenigen zu leben, die nun wirklich in große Not gefallen sind. Man kann nun den Wert des vorher scheinbar allzu „alltäglichen“ Lebens wiederentdecken, um in Zukunft bewusster leben zu können.”
RV: Wenn wir von Zukunft sprechen, welches werden denn die Auswirkungen auf die Zukunft sein?
Markus Krienke: „Das Coronavirus markiert ohne Zweifel eine Zäsur – man spricht ja seit geraumer Zeit vom „Ende der Moderne“ und das Gefühl, nicht eine „Epoche des Wandels“ sondern einen richtiggehenden „Epochenwandel“ zu durchschreiten, wie es Papst Franziskus einmal formulierte, haben wir seit langem. Vor allem der Wandel der Gesellschaft durch die neuen digitalen Medien wird sich vor allem in Europa beschleunigen und dies wird weitgehende Veränderungen in der Arbeitswelt, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, für die Politik und die Zivilgesellschaft usw. mit sich bringen.
Wir werden einen veränderten Blick auf die sich in letzter Zeit immer stärker beschleunigende Globalisierung bekommen und zumindest eine momentane Verlangsamung des Lebens erleben. Europa selbst wird auf eine große Probe gestellt sein, was sich ja gerade in diesen Tagen anbahnt. Generell warne ich jedoch davor, nun in Panik zu verfallen: Wenn es einerseits gut ist, dass wir nun einen veränderten Blick auf unsere Situation bekommen, sollte man sich aber stets dessen bewusst sein, dass wir eine Extremsituation durchschreiten. Wir werden unsere Lehren daraus ziehen müssen, dürfen aber den jetzigen Moment auch nicht verabsolutieren.”
RV: Gerade im Blick auf Europa kann man in diesen Tagen ja nur besorgt sein...
Markus Krienke: „Das sehe ich genauso: Bezeichnenderweise ist die „Sorge um Europa“ (die einige negativ, andere leider positiv sehen) in Italien in diesen Tagen viel ausgeprägter als in Deutschland, wo man weder politisch noch gesellschaftlich den Ernst der Lage richtig wahrzunehmen scheint. Nachdem die Europäische Union in den letzten Jahren bereits einige Male versäumt hat, eines ihrer ehernsten Ziele, die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten, den nationalstaatlichen Interessen voranzustellen, könnte diese Tendenz im jetzigen Moment fatale Folgen haben.
Zum Glück hat nun auch Macron klar ausgesprochen, was Italien und Spanien seit Tagen und Wochen anmahnen: dass sich Europa als Solidargemeinschaft gerade jetzt beweisen muss und die Notlage an einem Ort auch „in allen Teilen gefühlt wird“, wie einmal Kant formulierte. Aus der Situation in Italien lernen und dem Land gleichzeitig beizustehen: diese beiden Aspekte, die Europa stark machen würden, wurden nördlich der Alpen leider nicht gebührend realisiert.”
RV: Wird diese Situation auch Auswirkungen auf das Leben der christlichen Gemeinden haben?
Markus Krienke: „Die Auswirkungen sind ja bereits spürbar: Ausfall der Gottesdienste, des Gemeindelebens und nun auch der gemeinschaftlich gefeierten Osterrituale. Man sieht aber auch das Bemühen von Priestern und Bischöfen, die Gläubigen zu erreichen und eine gute spirituelle Begleitung der Menschen zu ermöglichen. Auch der außergewöhnliche und auch viele Nichtchristen beeindruckende Gestus des Papstes am 27. März gehört zur positiven Reaktion der christlichen Religion auf diese Lage.
Diese erfordert aber auch von den Gläubigen, sich stärker zu aktivieren: Angebote über die Medien zu entdecken und wahrzunehmen. Dies wird die christliche Gemeinschaft „fitter“ machen für eine Zukunft, in der durch Priestermangel und fortschreitende Säkularisierung sich Laien verstärkt „aktivieren“ müssen, aber auch der Klerus sich neue Methoden ausdenken muss, um Menschen zu erreichen. Resilienz und Kreativität sind also auch für die christlichen Gemeinden in der aktuellen Lage gefragt.”
Die Fragen stellte Christine Seuss
Zur Person:
Markus Krienke ist Ordentlicher Professor für Moderne Philosophie und Sozialethik an der Theologischen Fakultät Lugano und Direktor des dortigen Rosmini-Lehrstuhls (Cattedra Antonino Rosmini). Er lehrt außerdem Philosophische Anthropologie an der Päpstlichen Lateran-Universität und Katholische Soziallehre an der Theologischen Fakultät Mailand.
(vatican news - cs)
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