Deutschland will für mehr Solidarität in der EU werben
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
„Der gedankliche Ausgangspunkt unserer Ratspräsidentschaft ist die Überzeugung, dass wir in dieser Krise noch stärker und besser als bisher als Europäer gemeinsam in Solidarität handeln wollen“, sagte Koch. Am Anfang der Krise habe „Europa nicht so funktioniert, wie wir das gewollt hätten. Da sind Fehler gemacht worden, da sind auch von uns Deutschen Fehler gemacht worden." Inzwischen sei man weiter, gerade auch im Angesicht einer schwieriger gewordenen Weltlage . Der deutsche Diplomat sieht Parallelen zur österlichen Mahnung von Papst Franziskus in Richtung EU, sich nicht in Egoismen und Nationalismen zu verlieren. „In exakter Entsprechung dessen, was der Heilige Vater gefordert hat, sagen wir, ja, wir brauchen ein solidarisches Europa, das füreinander einsteht, und dazu wollen wir beitragen.“
In den ersten beiden Monaten der EU-Ratspräsidentschaft werde Deutschland alles dran setzen, das Programm „Next Generation“ der EU-Kommission zügig umzusetzen, erklärte Koch. Dieses bündelt mit einem historisch einzigartigen finanziellen Aufwand die Maßnahmen, die in Europa die Folgen der Corona-Krise abfedern und zu einem neuen Aufschwung führen sollen. Die Kommission will 750 Milliarden Euro auf den Finanzmärkten aufnehmen, die über einen Zeitraum von drei Jahren zwischen 2021 und 2024 ausgegeben werden sollen. Davon sollen 500 Milliarden in Form von Zuschüssen in Regionen und Wirtschaftssektoren fließen, die von der Krise schwer betroffen sind.
Beispielloser Rettungsschirm für Post-Corona-Zeit
In anderen Worten: Nur ein Drittel der enormen Wiederaufbausumme von „Next Generation EU“ soll in Form von Krediten fließen, zwei Drittel hingegen als nicht rückzahlbare Zuschüsse. Es handle sich um „etwas, das in diesem Umfang bisher nicht möglich war und das uns Deutschen so bisher nicht vorschwebte“, erklärte Koch. „Aber wir haben eben gesehen, dass jetzt die Stunde geschlagen hat, in der so etwas verlangt wird, und insofern stellen wir uns dem. Jetzt geht es darum, dass Politik Wege findet, das praktisch umzusetzen.“ Auch die EU-Bischöfe begrüßen den europäischen Wiederaufbaufonds in dieser Form.
Die Zuschüsse sollen zu Anfang nächsten Jahres in die Mitgliedsstaaten abfließen. Deutschland als EU-Ratspräsident ist nach den Worten Kochs daran interessiert, dieses Geld auch in den Dienst ökologischer Neuausrichtung zu stellen, Stichwort: Green Deal. „Wir glauben, dass ein großer Teil der Mittel, die wir für die Ingangsetzung der europäischen Wirtschaft nach Corona bereitstellen wollen, zugleich einzusetzen ist für die Zwecke der Erneuerung der Wirtschaft im Sinn von mehr Nachhaltigkeit. Denn auch das wird riesige Geldmengen erfordern, und es ist einfach nicht genug da, um das zweimal zu machen.“
Was die Aufnahme von Migranten in Europa anlangt, stellte Koch einen neuen Vorstoß der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Aussicht. „Wir glauben, dass die Zeit reif ist für einen neuen Versuch beim Thema Immigration nach Europa, nämlich eine gemeinsame Regelung zu finden, die einen konzertierten Mechanismus zur Aufnahme von Flüchtlingen in allen Staaten der europäischen Union vorsieht.“ Auch Papst Franziskus hatte den wohlhabenden Kontinent Europa vielfach dazu aufgerufen, keine Mauern zu errichten und bedürftige Menschen auf der Suche nach einer Perspektive nicht grundsätzlich abzuweisen.
„Die Grundkonstellation ist bekannt, wir haben in Europa in dieser Frage keine einheitliche Linie seit mindestens 2015“, erklärte Koch. „Und wir haben in der Frage in den mindestens zwei Lagern, die es dazu gibt, auch eine gewisse Verhärtung, was es schwer machen wird, da Einheitlichkeit herzustellen. Da machen wir uns keine Illusionen. Wir können auch nicht versprechen, dass ein solcher Versuch gelingt. Aber was wir versprechen ist, dass wir es versuchen werden.“ Dabei werde Deutschland als Moderator auftreten, wie es die Rolle der EU-Ratspräsidentschaft vorsieht, sagte Koch. „Das Ziel muss sein, ein Verfahren zu finden, bei dem man vermeidet, dass jedes Mal, wenn wieder Flüchtlinge und Migranten aus dem Mittelmeer gerettet worden sind, jedes Mal, bei jedem einzelnen Schiff, eine EU-weite Verhandlung stattfinden muss um zu klären, wer wie viele dieser armen Menschen aufnimmt. Das muss das Ziel sein.“
Thema Rechtsstaatlichkeit
Auch Rechtsstaatlichkeit werde ein Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, führte Koch im Gespräch mit Radio Vatikan aus. Es verdiene auch deshalb „große Aufmerksamkeit, weil immer wieder die Forderung gestellt wir, dass ein Mitgliedsstaat, der mit Mitteln aus dem EU-Haushalt bedacht wird, dann schon auch bereit sein muss, Grundvoraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit, wie sie der EUGH auslegt, zu erfüllen.“ In den vergangenen Jahren sah sich die Europäische Kommission in einigen EU-Ländern wie namentlich Polen und Ungarn mit Situationen konfrontiert, die systemische Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit erkennen ließen, unter anderem ging es um das Justizwesen und um freie Medien. Um Einseitigkeiten zu vermeiden, müssen sich seit vergangenem Jahr alle EU-Staaten Überprüfungen der Rechtsstaatlichkeit unterziehen.
Als harte Nuss steht der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch das Thema Brexit ins Haus, die Frage also, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und dem ausgetretenen Großbritannien gestalten lassen. Bis Jahresende muss dazu ein Vertrag in Kraft sein. „Um diese Verhandlung steht es im Moment nicht gut, wir glauben aber, dass die Chancen im Moment besser sind als sie scheinen“, sagte Koch. Deutschland sei „interessiert am denkbar engsten Verhältnis zu Großbritannien, zugleich ist klar, dass die britische Seite die weniger erfreulichen Konsequenzen aus dem Brexit akzeptieren muss. Das fällt ihr erkennbar im Moment noch schwer.“
100 Jahre volle diplomatische Beziehungen
Deutschland und der Heilige Stuhl unterhalten seit genau 100 Jahren formelle diplomatische Beziehungen im Vollsinn. Am 29. Juni 1920 akkreditierte der Heilige Stuhl erstmals einen Nuntius in Berlin. Dieser Nuntius, Eugenio Pacelli, wurde später Papst Pius XII.
Die größte Krise der beidseitigen diplomatischen Beziehungen in 100 Jahren sei unstreitig die Zeit des Nationalsozialismus gewesen, sagte Koch. Als Höhepunkt nannte er das Mitwirken des Heiligen Stuhles bei der Wende von 1989, die 1990 in die deutsche Einheit mündete. Koch würdigte, „dass der damalige Papst Wojtyla, Johannes Paul II., auf verschiedenen Wegen wesentliche Impulse hat geben können für die Entwicklung zunächst in Polen und dann im ganzen Ostblock, die schließlich zu diesen Ereignissen führten. In der Tat hat sich die Kirche als weltpolitischer Akteur im großen Stil gezeigt, und das im Zug eines Vorgangs, der zur deutschen Wiedervereinigung geführt hat, was sicher das glücklichste Ereignis gewesen ist, das Deutschland nach der Katastrophe des II. Weltkriegs erlebt hat.“
Reist Franziskus 2021 nach Deutschland?
Nicht sagen kann der deutsche Botschafter, wie die Chancen auf einen Besuch von Papst Franziskus in Deutschland 2021 stehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Franziskus bei einem Telefonat Anfang Mai nach Deutschland eingeladen. Gerade eben war der Emeritus, Benedikt XVI., zu einem Kurzbesuch in seiner bayerischen Heimat, aber alle Papstreisen für das laufende Jahr sind, soweit sie geplant waren, wegen COVID-19 abgesagt. „Ich kann nur sagen, dass der Heilige Vater herzlich eingeladen ist, auch unser Land zu besuchen, und dass er sich sicher sein kann, sehr freundlich empfangen zu werden“, so Koch. „Wir würden uns darüber freuen. Wie wahrscheinlich das ist - ich weiß es nicht.“
(vatican news)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.